Mamma

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„Du warst wieder so lange arbeiten." Die kleine Frau stand im Türrahmen, als ich die Wohnung betrat.

Ich hängte meinen Schlüssel an seinen Platz. Genau wie meine Jacke. „Der Weg ist weit." Mehr sagte ich dazu nicht.

„Du hast sicher schon gegessen?" Obwohl wir Italiener waren, sprachen wir nie italienisch miteinander. Als Kind wurde ich immer auf meiner Muttersprache angeschrien. Deshalb stellte ich sowieso auf Durchzug.

„Ja." Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und strich eine ihrer Strähnen nach hinten. Langsam bekam sie graue Haare.

„Schade."

„Tut mir leid, Mamma." Ich aß selten mit ihr und meinem Vater zu Abend. Das machte sie traurig. Aber ich konnte einfach nicht über meinen Schatten springen. Es gab immer Streit, wenn wir zusammen an einem Tisch saßen. Mein Vater und ich. Nur für meine Mutter tat es mir leid.

„Leiste mir ein bisschen Gesellschaft, bis dein Vater kommt." Sie trug die Schüssel in ihrem Arm zurück in die Küche.

Ich setzte mich an die Theke und sah ihr beim Kochen zu. Das hatte ich schon immer gern gemacht.

„Wie war die Arbeit, tesoro?"

„Wie immer."

„Hast du viel gelernt?"

„Ja, ein bisschen."

„Das ist schön." Sie lächelte mich an.

Ich lächelte zurück. Wir redeten nicht viel miteinander. Ich hatte ihr einfach nicht viel zu sagen. Sie sah immer aus, als hätte sie viel zu sagen, doch tat sie es einfach nicht. Mich störte es nicht.

Mamma drehte das Radio lauter und verlor sich in ihrer Arbeit. Sie versank in ihrer eigenen Welt. Eine schöne, wie ich hoffte. Sie verdiente nur schöne Welten. Keine so hässlichen wie die, in der wir lebten.

Ich stützte meinen Kopf und betrachtete meine Mutter. Sie wurde älter. Erschreckend, dass es so schnell ging. Es machte mir Angst. Die Zeit rannte davon. Uns allen. Das war kein schönes Gefühl. Überhaupt nicht.

„Mamma?"

„Hm?"

„Wann fahrt ihr nach Hause?" Nach Hause. Damit meinte ich ihr Zuhause. Zweimal im Jahr besuchten sie die Familie in Italien. Ich war froh, dass ich nicht mehr mitfahren musste. Doch hier war es auch nicht viel besser. Brüder konnten grausam sein.

„Bald."

„Wie bald?"

„Lass mich nachsehen." Sie blätterte den Kalender um eine Seite weiter. „In drei Wochen."

„Okay."

„Und du möchtest sicher nicht mitkommen?"

Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss doch arbeiten." Die Ausrede gefiel mir. Sie war eine unkomplizierte Wahrheit. Es gab in meinem Leben zu wenig unkomplizierte Wahrheiten.

„Deine Großeltern würden dich sicher gerne wiedersehen."

„Ein anderes Mal."

Wahrscheinlich erinnerten sich meine Großeltern nicht einmal mehr an mich. Ich hatte so viele Cousins und Cousinen, dass ich vollkommen unterging. Ich gehörte weder zu den Ältesten, noch zu den Jüngsten. Das Mittelfeld geriet so schnell in Vergessenheit. Vielleicht war das der Grund, wieso mein zweitältester Bruder machen konnte, was er wollte. Er befand sich in der Grauzone. Er war unsichtbar. Dafür beneidete ich Samu.

„Mamma?"

„Raffaele?"

„Ist Rico da?"

Meine Mutter nickte in die Richtung unserer Zimmertür. Die Wohnung war zu klein für fünf Leute, weshalb ich mir das Zimmer mit meinen beiden Brüdern teilen musste. „Er hängt den ganzen Tag hier rum." Sie schimpfte etwas italienisches, was ich nicht verstand. „Mit diesem Thomas. Der ist auch ständig da."

Mein Herz machte einen kleinen Satz. „Tommy ist da?"

„Genauso faul wie Federico! Sie sollten sich eine Beschäftigung suchen." Mamma rührte im Topf herum. „Sie sind 20!"

„Tommy ist erst 19, Mamma."

„Ganz egal! Du bist 16 und hast einen Job. Sie sollten sich ein Beispiel an dir nehmen."

Vermutlich hatte sie Recht. Und nervig war es auch, dass Rico immer Zuhause war. Ein weiterer Grund, wieso ich gern fern blieb. Daheim hatte ich einfach nie meine Ruhe. Niemals.

„Probieren!" Die Köchin schob mir einen Löffel in den Mund.

„Mh! Schmeckt gut."

„Dann iss mit uns zu Abend."

„Morgen, Mamma." Ich hörte die Wohnungstür aufgehen. „Morgen esse ich mit dir. Versprochen!" Ich küsste ihre Wange, ehe ich meine Tasche nahm und zu meinem Zimmer ging. „Gute Nacht."

„Gute Nacht, tesoro."

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt