Durchzug

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„Wir waren spazieren."

„Was?"

„Hörst du schlecht?"

„Ja! Wenn du sowas sagst schon!" Die Blondine biss vom Hamburger ab. „Wie kam's dazu?", nuschelte er mit vollem Mund.

Ich knabberte an meinen Pommes herum und ließ meine Füße baumeln. Wie fast jeden Abend hockten wir auf der kleinen Probebühne und aßen gemeinsam. Meine Schultern zuckte nach oben.

„Du wirst doch wohl wissen, wie es dazu kam, dass ihr spazieren wart."

„Keine Ahnung." Ich zog ein Knie an den Oberkörper. „Es war mitten in der Nacht. Ich hing halt so rum. Und dann hab ihn unten stehen sehen und bin einfach runter zu ihm. Er meinte dann, ob ich ein Stück mit ihm laufe."

„Also habt ihr euch nicht dazu verabredet?"

„Natürlich nicht. Wie auch?"

„Weiß nicht. Vielleicht hast du seine Nummer."

„Hab ich nicht. Keine Ahnung, ob er überhaupt ein Handy hat. Ich hab jedenfalls keins. Und mein Vater mag es nicht, wenn wir sinnlos mit dem Festnetz telefonieren."

„Das wäre ja nicht sinnlos. Du musst ja deinen Liebsten anrufen."

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Er ist nicht mein Liebster."

„Aber du bist verknallt."

„Er aber nicht." Wieso sollte Tommy mich auch mögen? Wieso sollte er überhaupt einen Jungen mögen? Noch dazu einen, der drei Jahre jünger war. Wahrscheinlich hatte er eine Freundin.

„Wieso war er denn Nachts vor eurem Haus?"

„Keine Ahnung. Wollte wohl zu Rico."

„Hat er denn geklingelt?"

„Nee." Ich warf die Fritte zurück in die Box und schob sie Alex hin. „Er hätte damit ja auch alle geweckt."

Er kümmerte sich um meine Reste. So wie immer. „Ich schnall es nicht", murmelte er kauend.

„Ich auch nicht", gab ich zu. Es machte einfach keinen Sinn. Vielleicht hatte Tommy nicht gewusst, wohin er sollte. Allem Anschein nach, hatte er sich geprügelt. Mal wieder. Kann sein, dass er keinen Stress mit seinen Alten wollte, weil er so nach Hause kam. Dabei fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, ob er überhaupt bei seinen Eltern wohnte. Mit 19 konnte er durchaus eine eigene Bude haben. Aber ohne Job?

Nach dem Essen musste Alex los. Ich blieb noch eine kleine Weile. Dann wurde es mir zu gruselig im menschenleeren Theater. Ich nahm meine Sachen und schloss hinter mir ab.

Es war bereits dunkel, als ich zur U-Bahn lief. Ich stellte mir vor, mit Tommy zu laufen. So wie letzte Nacht. Es war schön gewesen. Zwar verstand ich es nicht, doch war mir das egal. Wir hatten Zeit miteinander verbracht. Zu zweit. Nur wir beide. Ich hatte mich besonders gefühlt. Irgendwie. Er hatte nichts blödes gesagt. Nicht so wie sonst. Ich war zur richtig Zeit am richtigen Ort gewesen und hatte meine Chance genutzt. Auch, wenn es nicht nochmal vorkomme würde. Das war ganz egal, denn diese Nacht konnte mir niemand mehr nehmen. Kein Mensch der Welt konnte in meinen Kopf eindringen und mir die Erinnerung an einen schönen Spaziergang nehmen.

Ich joggte die Treppen hinunter und stieg direkt in die Bahn, die mich nach Hause brachte. Es gab keinen Sitzplatz mehr, also blieb ich einfach an der Tür stehen. Menschen stiegen aus und ein. Wie immer liefen komische Gestalten durch den Zug. Sie pöbelten und stanken nach Alkohol. Ich hatte mich daran gewöhnt und ignorierte es.

An meiner Station stieg ich aus. Auf dem Gleis gegenüber kam die Bahn an, die in die andere Richtung fuhr. Mir war nicht klar gewesen, wie spät es bereits war.

Wir standen einander gegenüber. „Du bist spät dran."

„Ja." Ich erwiderte seinen eisernen Blick. Seine dunklen Augen bohrten sich in meine. Als wolle er mir so in die Gedanken schauen. Das würde er niemals schaffen. Ich hatte eine Mauer gebaut.

Er nickte zur Treppe und gemeinsam verließen wir die Bahnstation.

„Viel zu tun?"

„Ja."

Der Mann neben mir brummte nur. Den Rest des Weges schwiegen wir. Ich fühlte mich unwohl. Das war nicht so ein friedliches Schweigen wie mit Tommy. Nein, dieses Schweigen tat weh. Es zerfraß einen von innen und ließ bitter aufstoßen. In diesen wenigen Minuten schaffte dieser Mensch es, mir meine komplette Energie auszusaugen. So fühlte es sich an.

Er schloss die Eingangstür auf. Die Fahrt mit dem Fahrstuhl war unerträglich. Aber er hätte etwas gesagt, wenn ich die Treppen genommen hätte. Gemeinsam betraten wir die Wohnung.

Mamma strahlte, als sie uns zusammen sah. „Essen wir heute gemeinsam?" Die Hoffnung in ihrer Stimme. Ich wollte sie nicht enttäuschen und tat es dennoch.

Wie jeden Abend hängte ich Jacke und Schlüssel an ihren Platz. „Ich hab schon gegessen." Ich küsste ihre Stirn. „Gute Nacht, Mamma."

Ein mürrisches Brummen. „Typsich..."

Einige Sekunden blieb ich vor der Zimmertür stehen. Meine Hand krallte sich in mein Shirt. Dort wo mein Herz war, tat es weh. So schrecklich weh.

„Lass den Jungen."

„Er hat zu viel von... von ihr!" Mein Vater war wieder einmal bester Laune. „Diese schreckliche Frau. Wieso musste ausgerechnet einer von meinen Söhnen ihren Charakter bekommen?"

„Er kann ja nichts dafür", hörte ich meine Mutter sagen.

Ich lehnte meine Stirn an die Tür, ehe ich sie öffnete. Das restliche Fluchen meines Vaters verstand ich nicht. Bei Italienisch stellte ich auf Durchzug.

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt