Camillas Lachen

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„Ich muss dir etwas sagen."

„Was denn?" Ich beäugte skeptisch das Essen, das Camilla mir vor die Nase stellte. Sie probierte gerne neue Dinge aus. Ich nicht. Mir waren bekannte Gerichte auf dem Teller lieber als neue zu probieren.

„Dein Vater war bei mir."

Ich sah von meinem Essen auf, warf ihr einen verwirrten Blick zu.

„Das dachte ich auch, mein Junge!" Sie setzte sich zu mir. „Iss."

Etwas widerwillig griff ich nach meiner Gabel und stocherte in ihrem Experiment herum. „Wann war er denn hier?"

„Vor ein paar Tagen. Ich war völlig überrascht. Antonio habe ich nicht mehr gesehen, seit du ein Baby warst. Er hat mich nie besucht und mir deutlich gemacht, dass ich euch in Ruhe lassen soll."

Ich starrte nachdenklich auf meinen Teller. „Was wollte er denn?"

„Er sagte, er wolle reden. Aber im Grunde hat er mich nur ausgefragt."

„Was wollte er wissen?"

„Seit wann wir beide Kontakt zueinander haben und wie oft du hier bist und solche Dinge. Im Grunde ging es nur um dich."

Ich spießte etwas mit der Gabel auf, betrachtete es einen Moment, ehe ich mein Besteck komplett zur Seite legte. „Um mich?"

„Ja! Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte." Sie sah mich entschuldigend an. „Ich hab mich für die Wahrheit entschieden. Bitte sei mir nicht böse, hm?"

„Dir kann ich gar nicht böse sein." Ich schenkte ihr ein Lächeln, das ich nicht wirklich fühlte. Mir war ganz merkwürdig im Bauch. Mein Vater wusste, dass ich mich mit Camilla traf. Was wusste er noch?

„Raffaele." Sie seufzte und nahm einen Schluck von ihrem Wein. „Er wirkte recht entspannt auf mich. Vielleicht möchte er sich einfach nur mehr in dein Leben einbringen?"

Irgendwie glaubte ich das nicht. All die Jahre, in denen wir Krieg geführt hatten. Da fiel es mir schwer, zu glauben, was Camilla und Mamma sagten. Dabei kannten sie ihren Sohn und Mann wohl am besten. Oder nicht? „Ja, vielleicht."

„Ich hab mich sehr über seinen Besuch gefreut, weißt du?"

Das konnte ich mir vorstellen. Immerhin war er ihr Sohn. „Wäre doch schön, wenn ihr beide euch auch wieder annähert."

Wahrscheinlich glaubte sie mir genauso wenig wie ich ihr zuvor. Denn sie schenkte mir das gleiche seltsame Lächeln, das ich ihr selbst gegeben hatte.

„Familie ist ein merkwürdiges Konzept", murmelte ich und probierte nun doch von dem Essen. Es schmeckte besser als es aussah.

Meine Großmutter lachte ihr Camilla-Lachen, an das ich mich so gewöhnt hatte. Es erreichte mein Herz. Ich fühlte mich Zuhause, wenn ich es hörte. „Da gebe ich dir Recht."

„Ich meine, ich liebe Mamma. Und meine Brüder auf irgendeine Art. Sogar Babbo. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Leben um sie herum bauen will. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Sie sind mir wichtig. Wenn es hart auf hart käme, würde ich mich schützend vor sie stellen. Aber, wenn es nicht ums überleben geht, weiß ich nicht, ob ich alles für sie opfern würde." Ich stützte meinen Kopf und sortierte alles auf dem Teller nach dem Geschmack. Was ich nicht so gerne mochte, zwang ich mir als erstes rein. „Macht mich das zu einem herzlosen Menschen, Camilla? Bin ich deswegen grausam? Weil meine Familie nicht über allem steht?"

„Das glaube ich nicht. Das ist ganz allein dein Empfinden. Du hast deine Gründe und es ist meiner Meinung nach nichts verwerfliches daran, sich selbst über alles andere zu stellen. Das klingt egoistisch. Aber du lebst dein eigenes Leben. Jeder ist ein Stück weit für sich selbst verantwortlich. Du kannst nicht alles aufgeben, was dich ausmacht. Du bist die Hauptrolle. Kein Nebendarsteller. Nicht in deinem eigenen Leben. Irgendwann bist du reif. Ausgewachsen. Bereit, das Nest zu verlassen und dann lebst du dein eigenes Leben. Du allein entscheidest, wie es aussehen soll. Nicht deine Eltern. Nicht deine Brüder. Nicht Tommy oder Alex oder ich. Nein, du ganz allein. Und wenn du möchtest, dass deine Familie Teil deines Lebens ist, ist es gut. Aber genauso ist es gut, wenn du dich dagegen entscheidest. So oder so wird es nicht immer einfach sein. Du wirst dich allein fühlen. Manchmal einsam und verlassen. Aber, mein Junge, das ist eben das Leben. Du ersparst dir nur eine Menge Kummer, wenn du auf dein Gefühl hörst und dich nicht in eine Richtung drängen lässt, in die du gar nicht gehen möchtest."

Ich betrachtete meine Großmutter. „Aber ich hab Angst."

„Das ist in Ordnung. Jeder hat Angst. Es ist nur wichtig, dass du nicht dein ganzes Leben von dieser Angst bestimmen lässt." Sie lächelte mich liebevoll an. „Du bist so jung, Raffaele. Auch, wenn harte Tage und Wochen und sogar Jahre kommen. Ich bin mir sicher, dass du sie überstehen wirst und danach die Sonne für dich scheint." Sie legte ihre Hand auf meine und drückte sie sanft. „Koste die wertvolle Zeit aus, die du hast. Und denk daran: jeder macht Fehler. Fehler sind dazu da, um daraus zu lernen. Also tu es auch."

Ich erwiderte ihr Lächeln. Zwar wusste ich noch nicht, ob ich mich durch ihre Worte besser fühlte, aber es war schön, ihre Meinung zu hören. Nun war es an der Zeit, mir meine eigene zu bilden. „Ich bin so froh, dass wir uns getroffen haben."

„Ich auch, mein Junge. Egal, was passiert. Du wirst hier immer ein Platz zum Schlafen finden und etwas zu essen. Ein offenes Ohr, Umarmungen und einen Rat. Ob der gut ist, weiß ich allerdings nicht." Wieder hallte ihr Lachen durch die Küche.

Und durch mein Herz.

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt