Alles lief gut. Ich verstand mich mit jedem Tag besser mit Camilla. Alex war die perfekte Alibi-Freundin. Niemand schöpfte Verdacht und mit Tommy lief es gut. Es war schön mit ihm, obwohl er immer noch ein Idiot war und nicht wirklich mit mir redete. Meine Brüder ließen mich in Ruhe und meinem Vater konnte ich begegnen, ohne, dass er etwas verletzendes tat oder sagte. Er hatte die Krawatte, die ich ihm an Heiligabend geschenkt hatte, an den Feiertagen getragen. Ihm schien sie wirklich zu gefallen. Das machte mich irgendwie ein bisschen glücklich. Dabei war es nur eine bescheuerte Krawatte.
Alles lief zu gut.
Meine Großmutter sah mich etwas bedrückt an, als sie mir ihre Wohnungstür öffnete. „Raffaele, du bist es."
„Klar, wer sonst?" Ich streifte Schal und Lederjacke ab. Ich trug sie immer. Die Jacke. Im Winter gab es eben Zwiebellook.
Camilla schob die Tür zu. „Komm rein, mein Lieber.
„Was ist denn los?" Ich reichte ihr den Beutel mit Tupperdosen. „Ich hab dir was vom Weihnachtsessen mitgebracht."
„Das ist lieb von dir." Sie strich mir über den Arm, ehe sie voraus in die Küche ging. „Alex ist auch da."
„Hey! Wie war dein Weihnachten? Habt ihr euch die Köpfe eingeschlagen?" Ich blieb im Türrahmen stehen. Das Grinsen verging mir. Die Freude, meinen besten Freund zu sehen, ebenfalls. Denn so wollte ich ihn einfach nicht sehen. Niemals. „Alex...?"
Er wischte sich hastig über das Gesicht und schniefte. Das half gar nichts. „Raffi...!" Sein Lächeln war falscher als alles, was ich je gesehen hatte.
Alles bimmelte. Die Alarmglocken waren nicht zu überhören. „Was ist passiert?" Ich wusste nicht, warum ich mich nicht vom Fleck bewegen konnte.
„Alles ist gut." Wieder ein Schniefen. Seine Hände zitterten. Genau wie seine Stimme. Am liebsten hätte ich ihm das widerliche Höflichkeitslächeln aus dem Gesicht geboxt. Aus diesem Gesicht, das sonst das wunderschönste auf der Welt war. Nicht einmal Tommys Gesicht kam an das von Alex heran. Bis auf heute. Er weinte oft, doch noch nie waren seine Augen so rot gewesen. So aufgequollen. Das grau seiner Augen sah verwaschen aus. Wie auch immer das funktionieren sollte. Er sah krank aus.
„Lüg mich nicht an, Alex." Endlich konnte ich mich aus meiner Starre lösen. Ich lief zu ihm rüber und warf mich neben ihn auf Camillas merkwürdige Couch. Er wimmerte auf, als ich versehentlich gegen ihn stieß.
„Raffi...?" Seine Augen waren Wasserfälle. „Hast du in letzter Zeit daran gedacht?"
Es tat mir in der Seele weh. Weil ich wusste, was er meinte. Vielleicht tat es sogar noch mehr weh, ihm die Gegenfrage zu stellen. „Ans Sterben oder an Sex...?" Meine Stimme zitterte, während ich ganz automatisch meinen besten Freund abtastete. Ganz vorsichtig. Schließlich wusste ich, wonach ich suchte und ich wollte ihm nicht wehtun.
„Beides...", schluchzte er.
„Ständig an Sex." Ich schob seine Ärmel nach oben. Er wehrte sich nicht. Ich strich über die Verbände an seinen Unterarmen.
Mein bester Freund lachte verbittert auf. „Witzig. Denn an Sex denke ich überhaupt nicht mehr." Wieder ein Schluchzen. Und noch eins. Wimmern und Schniefen und ein jämmerlicher kleiner Schrei aus seiner Kehle, die sich vermutlich mindestens genauso schrecklich anfühlte, wie es sich anhörte.
Ich konnte nicht genau sagen, wie lang das so ging. Wie lang wir auf Camillas Sofa saßen. Mal nahm ich ihn in den Arm. Mal saßen wir so weit voneinander entfernt wie möglich. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Ob er meine Hilfe wollte. Ob er überhaupt Hilfe wollte. Alex redete nicht über das, was passiert war. Nicht mit mir. Von meiner Großmutter erfuhr ich, dass irgendwas bei ihm Zuhause vorgefallen war, was das Fass wohl zum Überlaufen gebracht haben musste. Sie wusste mehr, als sie mir sagte. Aber ich verstand, dass sie es für sich behielt. Alex hatte sich ihr anvertraut. Das war gut. Ich musste es nicht wissen, wenn er das nicht wollte.
„Armes Kind..." Camilla sah zu ihm hinüber.
Wir hatten Alex eingerollt in Decken und Kissen und er war endlich eingeschlafen. Es brach mir das Herz. Ihn so zu sehen. Ihn so zu hören.
Ich nippte an meinem Kaffee. „Er hatte öfter Zusammenbrüche. Und ich kenne seine Narben. Aber... die sind alle verheilt und..." Wütend wischte ich mir über das Gesicht. Ich durfte nicht weinen. Auf keinen Fall. Ich musste stark bleiben. Alex brauchte jemanden, an dem er sich festhalten konnte. „Scheiße. Ich hätte merken müssen, dass irgendwas nicht stimmt."
„Raffaele. Mein Junge, dich trifft keine Schuld." Sie strich mir über den Rücken. „Niemand hat hier Schuld."
Ich stieß mir meine Faust immer wieder leicht gegen die Stirn. „Wieso ist die Welt so verkorkst? Wieso ist das Leben so beschissen? Womit hat er das verdient?" Ich streckte meine Hand in Richtung Wohnzimmer. Es fiel mir schwer, nicht zu schreien. „Und wieso kann ich ihm nicht helfen? Wie helfe ich jemandem, der am Ende ist? Scheiße, wir sind zu jung, um uns über so eine Kacke Gedanken zu machen!" Ich knallte die Tasse auf die Arbeitsplatte und starrte zu meinem besten Freund.
Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Mit Tommy. Meinen Verliebtsein. Mir war entgangen, dass es ihm schlecht ging. Ich hätte es merken müssen. Wer sonst? Ich war sein bester Freund. Sein einziger Freund. Verdammt...!
„Ich habe schon mit einem guten Freund von mir telefoniert. Er ist Therapeut, weißt du? Unser Engelchen braucht professionelle Hilfe. Das ist ganz wichtig." Ich bewunderte meine Großmutter für ihre Ruhe. Für ihren klaren Kopf. „Ich bin mir sicher, dass wieder bessere Zeiten kommen." Sie nahm die Dosen aus dem Beutel und holte ein ein paar Töpfe aus dem Schrank. „Komm, ich mach uns das Essen warm."
Ich rührte kein bisschen an, von den Resten, die ich von Zuhause mitgebracht hatte. Keinen Happen.

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Wolke null [boyxboy]
Novela JuvenilDer 16-jährige Raffaele hat es nicht immer leicht. Seine Brüder gehen ihm auf die Nerven und dem Vater kann er es auch nicht recht machen. Und dann ist da noch Tommy... Schweigen, Lügen und die erste Liebe. Dies ist ein Einblick in die Vergangenheit...