Ich hatte den Dreien erzählt, was passiert war. Alles. Wort für Wort. Denn alles, was ich gesagt hatte, hatte sich in mein Hirn gebrannt. Und alles, was mein Vater gesagt hatte, hatte sich in mein Herz gebrannt. Worte und Gesten und Blickte, die ich niemals wieder vergessen würde. Wahrscheinlich hatte dieser Streit mein Leben für immer verändert. Würde ich meinen Vater je wieder unter die Augen treten können? Meine Mutter in den Arm nehmen? Wie stand sie zu alle dem? Verabscheute sie mich auch? Weil ich schwul war? Sie war sehr konservativ aufgewachsen. Und Babbo? Camilla sagte selbst, dass sie ihm in seiner Kindheit so viel Vielfalt aufgezwungen hatte, dass er eine chronische Abneigung entwickelt hatte. Vielleicht hatte er ein Trauma. Aber ich gab meiner Großmutter keine Schuld. Ausgrenzung war eine Entscheidung. Seinen Sohn zu verstoßen war eine Entscheidung. Seine Eltern belügen ebenfalls. Keiner von uns war eine völlig reine Seele. Wir alle hatten Flecken.
„Wieso diese Wortwahl?" Stöhnend stieß ich mir die Faust an die Stirn. „Versteht mich nicht falsch... Ich wollte ihm genau das sagen. Aber musste ich es tatsächlich so ausdrücken? Musste ich meinem Vater ins Gesicht schreien, dass ich mich von einem Kerl ficken lasse?" Ich jaulte auf und raufte mir die Haare.
„Hätten weniger direkte Worte etwas geändert?" Alex setzte sich auf die Lehne des Sessels, auf dem Camilla saß.
Ja, hätte es was geändert?
„Die Schelle hat er nicht wegen der Wortwahl bekommen", meinte er zu Alex, warf sich einfach auf mich drauf. „Du hättest dein Outing so schön verpacken können wie du willst. Aber er hätte dir trotzdem eine verpasst. Da bin ich mir sicher."
„Toll", brummte ich und versuchte den Parasiten von mir runter zu schieben. „Jetzt verpiss dich. Was willst du überhaupt hier? Das ist mein Geheimversteck..."
Er grinste mich an und knallte seine Stirn an meine. Als hätte ich nicht schon genug Kopfschmerzen gehabt. „Du hast keine Geheimnisse vor mir. Ich weiß alles über dich, Raffi."
Ich starrte ihm in die Augen. Aber wie immer verlor ich. Denn ich wandte zuerst den Blick ab. Wich dem seinen aus. Dieses Starren, das sich in mein Hirn bohrte. Kein Gedanke war vor ihm sicher. Und trotzdem war er hier. Trotz meiner befleckten Seele. Bei Camilla. Bei mir...
Samu umfasste mein Gesicht und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Du bist mein kleiner Bruder. Egal, was passiert. Ich hab keinen Krieg mit dir. Und, dass du Typen magst, ändert gar nichts daran. Auch, wenn ich mal etwas anderes gesagt hab. Ich wollte dich nur beschützen", flüsterte er, ehe er sich aufrappelte. „Und genauso wenig habe ich Krieg mit Babbo. Das ist eine Sache zwischen euch. Ich bin die Schweiz."
Mein älterer Bruder war einfach bei Camilla aufgetaucht, nachdem ich meinen Rausch bei ihr ausgeschlafen hatte. Er wusste wirklich alles...
„Ich erinnere mich nicht einmal, wann das alles angefangen hat." Ich kuschelte mich auf der Kummer-Couch ein. Camillas Sofa war ein sicherer Ort, an dem man seine Sorgen einfach rauslassen konnte. Erst war es Alex gewesen, der diese blaue Insel gebraucht hatte. Nun brauchte ich sie. Meine eigene Insel, auf der ich so viel jammern und weinen und schreien durfte wie ich wollte. Und trotzdem kam keine Träne. Mein Kummer blieb in mir stecken und ich wusste nicht, wie ich ihn raus bekam. Er hing fest. Wie fieser Husten.
Samuele hatte sich zu meinen Füßen gesetzt und zog die Knie an den Oberkörper. Er war kein großer Mensch. Wenn er so da saß, sah er noch viel kleiner aus. Klein, aber nicht zerbrechlich. Ja, vielleicht bewunderte ich meinen großen Bruder für seine Stärke. Körperlich wie mental.
„Als wir in die Grundschule gingen, hast du Mammas Sachen aus ihrem Schrank geklaut und sie auf dem Boden ausgebreitet. Du hast sie nicht angezogen. Aber du saßt auf dem Boden vor den Kleidern und hast sie dir angesehen." Samu legte seine Wange auf dem Knie ab. Er schloss die Augen, als würde er dann die Erinnerung vor sich sehen. „Babbo kam früher von der Arbeit. Er hat dich so im Schlafzimmer gefunden und dich angeschrien. Du hast ihm erklärt, dass du Mammas Kleider einfach so schön findest, dass du sie dir ansehen willst. Er hat es nicht verstanden und wurde wütend auf dich."
Ich erinnerte mich nicht mehr daran.
„Immer, wenn du etwas ‚mädchenhaftes' gesagt oder getan hast, wurde er wütend. Du hast ihn nicht verstanden. Wieso auch? Du hast ja nichts falsch gemacht. Aber er hat dich auch nicht verstanden." Mein Bruder zuckte mit den Schultern und sah mich an. „Später an der weiterführenden Schule... Du hast über den Jungen geredet. Über den, der sich geoutet hat. Eigentlich hast du überhaupt nicht viel gesagt. Nur kurz von ihm erzählt. Aber Babbo stand der Hass auf der Stirn. Oder die Angst. Keine Ahnung."
„Warum erinnerst du dich daran?"
Samu lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. „Hab ein gutes Gedächtnis. Und ich hab schon immer alles nur beobachtet. Immerhin bin ich unsichtbar."
Er war unsichtbar. Aber es tat mir weh, ihn das sagen zu hören.
„Ich glaube, es ist nicht wirklich etwas persönliches. Unser Vater hasst nicht dich. Es ist die Tatsache, dass du anders bist."
„Aber dafür kann ich nichts."
„Ich weiß. Und ich weiß, dass er es weiß. Aber, Raffi, sieh es positiv. Die Wahrheit ist raus. Es steht im Grunde nichts mehr zwischen euch. Alles ist gesagt."
„Alles, was ich gesagt hab, steht zwischen uns. Ich bin für ihn gestorben."
„Du wirst immer sein Sohn bleiben. Du wirst immer Mammas Liebling sein. Das warst du immer. Auch, wenn ihr alle drei verletzt seid. Vielleicht werdet ihr nie wieder miteinander reden. Aber zwischen euch stehen keine Lügen mehr. Das ist meine Meinung. Eine schmerzhafte Wahrheit ist so viel mehr wert als eine Lüge, die dir langsam aber sicher die Luft zum Atmen nimmt." Er zwickte mir in die Wade. „Es ist dein Leben. Du entscheidest. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass wir beide cool sind. Ich bin die Schweiz. Wie gesagt." Samuele erhob sich und verabschiedete sich von uns dreien, ehe er Camillas Wohnung verließ.
Neutrales Gebiet. Allwissend, verschwiegen und unsichtbar. Hüter meiner Vergangenheit, die ich vermutlich verdrängt hatte. Samuele war immer für mich da gewesen, auch wenn ich ihn nicht gesehen hatte.

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Wolke null [boyxboy]
Teen FictionDer 16-jährige Raffaele hat es nicht immer leicht. Seine Brüder gehen ihm auf die Nerven und dem Vater kann er es auch nicht recht machen. Und dann ist da noch Tommy... Schweigen, Lügen und die erste Liebe. Dies ist ein Einblick in die Vergangenheit...