Fast jeden Tag traf ich mich mit meiner Großmutter. Alex war meistens dabei. Statt länger im Theater zu bleiben, gingen wir zu ihr. Camillas Zuhause war unser sicherer Ort. Neben dem Theater war das der einzige Ort, wo wir wirklich wir selbst sein konnten. Ohne Angst. Angst verstoßen zu werden. Die Mutter meines Vaters hatte schnell erkannt, dass Alex ein Formwandler war. Sie hatte nie etwas gesagt. Weder zu mir noch zu Alex selbst. Sie hatte ihm in keiner Sekunde auch nur das Gefühl gegeben, nicht gut zu sein. Mit jedem Tag, den ich mit ihr verbrachte, mochte ich die alte Frau mehr. Sie bedeutete mir nach so kurzer Zeit bereits die Welt. Ich war dankbar, dass ich ihr begegnet war.
Ich hockte auf der blauen Couch, die aussah wie eine Blume. Oder eine Muschel. Camillas Wohnung war komplett im Art Deco Stil eingerichtet. Ich mochte das. Es passte zu ihr. Elegant. Extravagant. An den Wänden hingen Portraits von Katzen in Uniformen und Frauen, die aussahen wie Göttinnen. Dieser Ort war faszinierend. Inspiration. In jeder Ecke gab es etwas zu entdecken.
„Ich hasse sie. Ich hasse sie! Ich hasse sie so sehr!" Alex kam ins Wohnzimmer gestürmt. „Ich hasse meine Mutter. Sie ist eine schreckliche Frau!" Mein bester Freund kniff sich ins Nasenbein.
Mir hatte es die Sprache verschlagen. Sonst hätte ich ihn sicherlich auf seine Wortwahl aufmerksam gemacht. Sein Anblick hatte mich meiner Worte beraubt. Ich war entzückt. Hingerissen. Und vollkommen geschockt.
Der 16-Jährige kickte sich die teuren Lederschuhe von den Füßen. Seine rosafarbenen Strümpfe waren perfekt auf die Krawatte und das Anstecktuch abgestimmt. Auf der Krawatte waren hellblaue Blüten. Ich hatte ihn noch nie in einem Anzug gesehen. Der hellgraue Anzug passte wie angegossen. Er war auf Alex' schmächtige Gestalt angepasst worden. Ich liebte sein Outfit.
Das war jedoch nicht das, was mich schockierte.
Er ließ sich neben mich auf die harte Couch fallen. Seine Augen waren rot unterlaufen und leicht geschwollen. Er hatte geheult. Aber auch das schockierte mich nicht. Mein Freund sah süß aus, wenn er geweint hatte. Auch wenn das vielleicht nicht das beste Kompliment wäre.
Schniefend zupfte er das Anstecktuch hervor und tupfte sich über die Augen, ehe er es auseinander faltete und ausgebreitet auf sein Gesicht legte. „Begrab mich. Dieser Tag ist mein letzter. Ich werde sterben. Nein!" Er riss den Arm in die Höhe. „Ich bin schon gestorben!" Er jaulte auf.
Ich streckte meine Hand nach ihm aus und vergrub meine Finger in seinen blonden Haare. Seine über alles geliebten Haare. „Was ist passiert...?"
„Meine Mutter ist passiert. Meine verdammte Mutter, diese Hexe! Und ihre geschmacklose Stylistin!"
Seine goldene Haarpracht. Sie war weg. Also nicht ganz weg. Aber nicht mehr lang. Stattdessen trug er einen radikalen Kurzhaarschnitt. Es sah gut aus. Alex sah gut aus. Wahrscheinlich könnte er völlig verwahrlosen und ich würde ihn noch immer schön finden.
„Sie hat mir meine Identität gestohlen", schluchzte er.
„Deine Frisur ist doch nicht wer du bist, mein Herz." Camilla stellte uns beiden jeweils ein Stück Kuchen vor die Nase.
„Doch! Meine Haare waren das, was mich ausmacht. In ihnen hat meine komplette Persönlichkeit gesteckt!" Alex rutschte auf der Couch nach unten, sodass sein Hintern über die Kante hing. Ich hatte Sorge, er würde jeden Augenblick den Abflug machen. „Die Hexe hat das bekommen, was sie so sehr wollte. Sie hat Alex getötet und sich ihren Alexander geschaffen, den sie immer haben wollte."
„Wer sagt denn, dass du nicht trotzdem einfach Alex bist?"
Er starrte meine Großmutter an und zeigte nur auf seinen Kopf.
Ich kämmte ihm mit den Fingern durch die neue Frisur. „Weder deine Kleidung, noch deine Haare sagen etwas über dein Geschlecht aus. Es gibt so viele feminine Frauen, die Kurzhaarschnitte rocken", argumentierte ich.
„Ich finde mich hässlich."
„Du bist niemals hässlich. Ohne Scheiß, du bist der wunderschönste Mensch, den ich kenne. Du, Alex, bist das atemberaubendste Kunstwerk, das je geschaffen wurde." Ich umfasste sein Gesicht. „Und wenn die Welt das nicht erkennt, dann ist sie blind."
Mein bester Freund zog eine Schnute. „Du Lügner!"
„Ich lüge nicht. Dich lüge ich niemals an." Ich drückte ihm einen Schmatzer auf den Mund, ehe ich ihn losließ. „Und ich finde deine Frisur süß."
„Ich mag sie nicht...", murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er seine Haltung wieder aufgab und sich grade neben mir aufsetzte, um seinen Kuchen zu essen.
„Du kannst Mützen tragen. Und Hüte! Ich liebe Hüte", warf Camilla ein.
Alex fuhr sich dramatisch über die Stirn. „Mützen und Hüte tun meiner Hairline nicht gut. Hab ich Geheimratsecken? Das sieht so aus, oder? Mein Vater hat schon fast eine Glatze. Ich werde enden wie er!" Dramaqueen...
Ich verkniff mir ein Schmunzeln „Soweit ich weiß, wird Haarausfall über die Mutter vererbt. Wie sieht die Hairline von ihrer Familie aus?"
„Keine Ahnung. Was interessieren die mich. Ich war nicht freiwillig auf der verkackten Hochzeit von meinem dummen Cousin!"
Das erklärte wohl den Anzug.
„Ich bin mir sicher, die haben alle blonde Löwenmähnen. Kein Grund zur Sorge, mein Herz." Camilla lächelte ihn süß an. „Und wenn du deine Haare kurz nicht magst, brauchst du ja nur ein wenig Geduld haben, hm? Wächst alles wieder nach und dann siehst du noch viel hübscher aus als jemals zuvor. Und jetzt esst brav euren Kuchen, ja?"
„Ich mag nicht." Ich warf der Erdbeerschnitte einen Blick zu. Camilla stand sehr auf Erdbeeren.
Alex richtete bedrohlich sein Besteck auf mich. „Du wirst jetzt mit mir ein Stück essen oder ich ersteche dich mit diesem goldenen Gäbelchen!" Er hatte seine Stimme verzogen, sodass er wie ein richtiger Kerl klang. Bei unserer ersten Begegnung hatte er zu mir gesagt, meine Stimme würde nicht zu meinem Aussehen passen, weil sie zu tief sei. Nun verstand ich, was er damit gemeint hatte.
Ich gab mich geschlagen und aß den Kuchen. Für ihn. Weil Rapunzel ihr magisches Haar verloren hatte.
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Wolke null [boyxboy]
Teen FictionDer 16-jährige Raffaele hat es nicht immer leicht. Seine Brüder gehen ihm auf die Nerven und dem Vater kann er es auch nicht recht machen. Und dann ist da noch Tommy... Schweigen, Lügen und die erste Liebe. Dies ist ein Einblick in die Vergangenheit...