Eine Reise

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Um mich von meinem Kummer abzulenken, stürzte ich mich in meine Arbeit. Ich gab mein Bestes, um viel zu lernen und meine Sache gut zu machen. Am Ende meiner Abschlussprüfungen bekam ich sogar eine Auszeichnung für besonders gute Leistung. Ich hätte es gern meiner Mamma erzählt. Ich hätte gern meinen Vater gefragt, ob er endlich stolz auf mich war. Es tat weh, es nicht tun zu können. Aber ich wusste, dass es gut so war. In stillen Momenten weinte ich manchmal, weil das Heimweh unerträglich wurde. Aber dann lächelte Camilla mich an und die Sonne schien. Sie war mein Anker auf hoher See. Mein Fels in der Brandung. Mein Rettungsring. Camilla war mein sicherer Hafen. Mein Zuhause. Ich hatte mit ihr etwas ganz besonderes gefunden. Dafür war ich unendlich dankbar. Sie und Alex waren meine Heimat.

Auch mein bester Freund bestand seine Prüfungen. Er riss sich von seinen Eltern los und brach aus seinem eigenen Gefängnis aus. Ich hatte keine Chance, mich persönlich bei ihm zu verabschieden. Kurz bevor er in den Flieger nach New York stieg, rief er mich an und gestand mir seine Gefühle, die er bis dahin tapfer verschwiegen hatte. Unsere Freundschaft zerbrach nicht. Trotz der Entfernung waren wir immer füreinander da. Wir schrieben viel oder telefonierten.

Während Alex die Staaten unsicher machte, reiste ich mit Camilla nach Italien. Ich lernte das Land meiner Mutter kennen. Das Land meiner Großmutter. Das erste Mal in meinem Leben sperrten meine Ohren die italienische Sprache nicht aus. Sie steckte mir im Blut. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich sie fließend konnte. Wahrscheinlich hatten all diese Worte nur darauf gewartet, von mir gesprochen zu werden. Ich fühlte mich meinen Wurzeln näher als je zuvor. Dank Camillas Kontakten in die Modewelt, arbeitete ich in Rom mit anderen talentierten Schneidern aus aller Welt in einem namenhaften Modeatelier zusammen. Ich saugte alles auf, was mir beigebracht wurde, und knüpfte Kontakte, die mich mein ganzes Leben begleiten sollten.

Drei Jahre blieben wir in Rom. Zurück Zuhause verstarb Camilla nach einem bunten und erfüllten Leben, während ihre verrückten Katzenbilder auf sie herabblickten. Es war der schwerste Abschied, den ich je erleben würde. Erneut brach meine ganze Welt zusammen. Doch diese unglaubliche Frau hatte mir gezeigt, wie man Schutt und Asche zusammenkehrte. Wie man sich aufrichtete und nach vorn blickte. Ich kümmerte mich um ihren kleinen roten Fiat, bewarb mich an einer Modeuniversität und konnte durch das Geld, das ich von ihr geerbt hatte, die Anzahlung für meine Traumwohnung leisten. Als ich in meinem noch leeren Wohnzimmer stand, konnte ich beinahe ihre Hand auf meiner Schulter spüren. Camilla würde immer bei mir bleiben, da war ich mir sicher.

Mein Vater war nicht zu der Beerdigung seiner Mutter gekommen. Aber Mamma. Sie hatte mir ein trauriges Lächeln geschenkt und mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Alles, was sie gesagt hatte, war die Frage, ob ich genug essen würde. Danach war sie gegangen. Seitdem hatte ich sie nie wieder gesehen. Aber es war okay.

Samuele blieb ein fleißiger Schlauberger. Er studierte Jura, büffelte Gesetze und all den Kram und schien seine Sache ganz gut zu machen, während unser ältester Bruder seine Freundin schwängerte. Sie ließ ihn mit dem Kind sitzen, sodass er wieder bei unseren Eltern in unser altes Kinderzimmer einzog. Aber Samu sagte, er machte sich gut als Babbo.

Tommy tauchte hin und wieder bei mir in der Stadt auf, nachdem ich meine Gefühle für ihn in eine Kiste verpackt hatte. Sie trug die Aufschrift „erste Liebe". Im Rückblick fühlte es sich kaum mehr an wie echte Liebe, doch war ich mir sicher, dass es genau das gewesen war. Es war schön gewesen. So unglaublich schön wie auch schmerzhaft. Ich wollte diese Erfahrung nicht missen. Sie war ein wertvoller Schatz. Und Tommy immer noch ein Idiot. Aber gut im Bett. Also trafen wir uns hin und wieder auf Wolke null, um uns an alte Zeiten zu erinnern.

Das Leben war eine Reise. Für einige länger, für andere kürzer. Es gab Höhen und Tiefen. Tiefe Schluchten. Weite Meere. Breite Täler. Steile Berge. Es war nicht leicht, alle Hürden zu überwinden. Manchmal gab man auf und blieb davor sitzen. Manchmal wurde einem eine helfende Hand gereicht oder ein Tritt sorgte für einen Absturz. Glücklichsein kam und ging. Kummer kam und ging. Es war ein Kreislauf. Alles kam zu seiner Zeit, auch, wenn die ganze Welt dann mal keinen Sinn ergeben wollte. Ich war dankbar für jedes Gefühl, das ich fühlen durfte, obwohl ich es auch mal mit Alkohol fort spülen wollte. Ich war dankbar für jeden Tag. Ich war dankbar für jede Freundschaft.

„Denkst du in letzter Zeit daran?", fragte Alex die Frage, die wir einander bis ans Ende aller Zeiten stellen würden. Mir war nicht klar, wie dieser Mensch es schaffte, mit jedem Tag noch viel schöner auszusehen.

„An Sex oder ans Sterben?"

Der Engel grinste in die Kamera seines Smartphones. „Beides."

„Hm... tatsächlich weder noch." Ich musste lachen. „Ich meine, ich habe Sex. Manchmal. Aber ich denke nicht wirklich darüber nach. Und das Sterben kann warten. Und du?"

„Genau. Das Sterben kann warten." Ich hörte es rascheln und sah, wie Alex sich auf ein Bett warf. „Aber Sex? Was meinst du?", fragte Alex den Mann neben ihm. Mein bester Freund lehnte seine Wange an die von Oliver. Der gut aussehende Amerikaner, der kaum ein Wort verstanden hatte, grinste unschuldig und küsste seinen Schatz.

„Okay! Ich glaube, ich hab meine Antwort!", rief ich lachend. Es machte mich glücklich, Alex glücklich zu sehen. Keiner hatte es mehr verdient als er. Allerdings wünschte ich mir, dass ich irgendwann meinen eigenen Oliver finden würde, der mich so liebte, wie ich war. Aber bis dahin, war ich zufrieden. Mit meinem Leben und dem Studium. Mit Wolke null.

Alles war okay. Vielleicht war Zufriedenheit auch das purste Glück, das es gab.


~ ENDE ~

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt