Hellblaues Satinkleid

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„Hier ist Raffaele..." Ich spielte mit den Kabel von Camillas uralten Schnurtelefon herum. Es war knallrot. Genau wie ihr kleiner Fiat. „Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich eine Weile bei Alex bleibe. Vielleicht auch ein paar Tage, das weiß ich noch nicht genau."

„Bei Alex?" Vielleicht lag es daran, dass ich sonst nie mit meinem Vater telefonierte. Aber irgendwas klang merkwürdig an seiner Stimme.

„Ja... Wenn es okay ist?"

„Wieso nicht?"

„Sagst du es Mamma?"

„Mach keinen Unsinn, ich warne dich." Damit legte er einfach auf.

Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester verschwammen. Alex schlief viel. Und weinte viel. Dann war er wieder ganz still. Am 30. ging es ihm besser. Ich war kaum von seiner Seite gewichen. Hatte ihn nie wirklich aus den Augen gelassen, weil ich Angst hatte, dass er mich ausgerechnet dann brauchen würde.

Als ich aus dem Bad kam, war er verschwunden. Er hatte sein Lager auf der Couch verlassen. Gefühlt das erste Mal seit seinem Zusammenbruch. Ich warf einen prüfenden Blick in den Wohnungsflur. Ohne Schuhe würde er doch hoffentlich nicht das Haus verlassen haben. Ich scannte die Bude nach ihm ab, bis ich ihn in dem Arbeitszimmer meiner Großmutter fand.

Er stand einfach da. Barfuß und in eine Wolldecke gewickelt, auf der unzählige Katzengesichter waren. Als er seine Hand nach dem hellblauen Satin ausstreckte, musste ich ganz automatisch auf den frischen Verband an seinem Arm sehen.

„Es ist ja fertig", stellte er fest. Vom vielen Weinen und Schreien und Schlafen war seine Stimme ganz kratzig.

„Ja. Ist es." Ich trat neben meinen Freund. Weil ich die letzten Nächte noch weniger schlafen konnte als sonst, hatte ich mich mit der Arbeit an dem Kleid abgelenkt. „Ich... musste meinen eigentlichen Entwurf etwas ändern. Aber ich finde, es ist schön geworden."

„Es ist mehr als nur schön, Raffi."

„Möchtest du es anziehen?" Ich fing an es der Schneiderpuppe auszuziehen.

„Was...? Aber wieso?"

„Vielleicht würdest du es gerne anprobieren? Dann weiß ich auch, ob ich noch etwas ändern muss."

Alex fehlten die Worte. Jedenfalls sagte er kein einziges. Er sah mich nur verwirrt an.

„Es ist deins. Ich hab deine Maße dafür genommen. Ich..." Ich zupfte einen Fussel vom Kleid, das ich mir über den Arm gelegt hatte. „Das ist mein Weihnachtsgeschenk. Für dich. Weil du letztens dieses Kleid so schön fandest... Da dachte ich... Und du hast von der Silvesterfeier erzählt, die deine Familie jedes Jahr veranstaltet. Du sagtest, du würdest gerne etwas schönes anziehen. Deshalb... Ich weiß ja aber nicht, ob..." Ich holte tief Luft und hob meinen Blick, der irgendwie auf den Dielen gelandet war.

„Das ist mein Kleid...?"

Ich nickte und hielt es ihm entgegen. „Ich... ursprünglich sollte es keine Ärmel haben. Aber ich dachte, dass du dich so vielleicht wohler fühlst." Die jüngsten Ereignisse hatten mich auf den Gedanken gebracht. Seine alten Narben waren so gut verheilt, dass sie kaum auffielen. Die frischen Wunden jedoch würden einige Zeit nicht zu übersehen sein. „Aber sie sind nur dran geknöpft!" Ich legte das Kleid über den Nähmaschinentisch und führte ihm vor, wie er die Ärmel ab und wieder ranmachen konnte. „Ganz egal, wie du es haben willst. Wenn du es denn haben willst..."

„Machst du Witze?" Das erste Mal seit Tagen schlich sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht. „Das ist das schönste Kleid, das ich je gesehen hab."

„Es gehört dir."

Mein bester Freund schlang seine Arme um meinen Nacken. Die Katzendecke fiel zu Boden. „Danke, Raffi."

Ich küsste seine Schulter, ehe ich mein Kinn darauf ablegte. Liebevoll streichelte ich seinen Rücken. „Ich fürchte zwar, dass das Kleid ein wenig warten muss, bis zu seinem ersten Auftritt, aber..."

„Ich werde Morgen hingehen. Zu der Party. Meine Eltern. Die wissen nicht, dass... Du weißt schon. Deswegen werde ich mich zusammenreißen und dort auftauchen." Alex krallte sich in mein Shirt. „Auch, wenn ich schreckliche Angst hab. Ich will dieses verdammte Kleid auf der Silvesterfeier tragen!"

Ich drückte ihn fest an mich.

„Und ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest", flüsterte er. „Als mein Freund." Alex löste sich von mir und rieb sich über die Wangen, während er auf den Boden starrte. „Alibi-Freund natürlich. Immerhin..."

„Ich werd bei dir sein." Für immer, wenn das bedeutete, dass es ihm gut ging. Schließlich war er mein bester Freund.

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt