Was bedeutet Familie?

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Die alte Frau im Stoffladen ging mir nicht der aus dem Kopf. „Mamma?" Ich nahm die Wäsche von Wäscheständer und faltete sie zusammen, obwohl ich wusste, dass meine Mutter sie sowieso nochmal neu zusammenlegen würde.

„Raffaele?"

„Haben wir hier auch Verwandtschaft?"

Sie hielt inne, sah jedoch nicht zu mir auf. Mamma saß auf dem Boden und packte die ersten Taschen für ihre Reise nach Italien. „Wie kommst du denn darauf, tesoro?"

Ich zuckte mit den Schultern und reichte ihr den Stapel mit Oberteilen runter. Sie wich mir aus. Es war offensichtlich, dass sie nicht über das Thema sprechen wollte. Oder konnte. Vielleicht hielt sie irgendwas zurück. Vielleicht hatte meine Mutter sich selbst Grenzen gesetzt. Grenzen, die sie nicht überschritt.

Wie erwartet, nahm sie jedes Kleidungsstück und faltete es neu. Ich wusste nicht, wieso ich ihr überhaupt half. „Ja."

Ich klappte den Ständer zusammen, stellte ihn in die Ecke, wo er immer stand. „Hm?"

„Ja, wir haben Verwandtschaft in der Nähe." Sie verteilte systematisch die Klamotten in die verschiedenen Taschen.

„Seit wann?"

„Schon immer, Raffaele."

„Wieso wusste ich davon nichts?"

„Weil wir nicht darüber reden." Sie sah zu mir auf und lächelte mich an. Mamma lächelte immer dieses Lächeln, wenn sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Es wäre besser gewesen, wenn sie gelogen hätte. Denn diese Wahrheit war nicht unkompliziert. Eine Lüge wäre es gewesen.

„Warum?"

„Lass es gut sein, mein Schatz." Mamma stand auf und strich mir über die Wange. „Lass es einfach gut sein."

Ich verstand es nicht. Wieso konnten wir nicht einfach darüber reden? Über alles. So vieles stand im Raum. So vieles wurde totgeschwiegen. Warum wurde aus allem ein Geheimnis gemacht?

Aber im Grunde konnte ich meinen Eltern keinen Vorwurf machen. Immerhin hatte ich selbst Geheimnisse. Die Arbeit beim Theater. Meine Sexualität. Überhaupt meine Gefühle. Gedanken. Ängste. Das alles verheimlichte ich vor ihnen.

Was war Familie? War das die Bedeutung dieses Wortes? Geheimnisse? Lügen? Wut und Ärger und Angst?

Natürlich empfand ich Liebe. Für meine Mutter. Für meine Brüder, obwohl sie mich nervten. Und vielleicht war da sogar ein kleines bisschen Liebe für meinen Vater. Aber reichte das?

Sollte eine Familie nicht zusammenhalten? Sollte das Zuhause nicht ein sicherer Ort sein, an dem alle ehrlich miteinander waren? Wo alle sich sicher fühlten? Ein Ort der Geborgenheit und Wärme? Wo alle einander akzeptierten? Wo immer eine liebevolle Umarmung wartete?

Ohne Mamma wäre mein Zuhause nicht ansatzweise ein solcher Ort. Sie hielt alles zusammen. Und ich wusste, dass sie daran kaputtging. In stillen Momenten weinte sie. Niemand nahm dann sie in den Arm. Schließlich war sie sonst diejenige, die Trost spendete. Doch wer spendete ihr Trost?

Ich legte meine Arme um die kleine Frau und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Erzählst du es mir irgendwann?"

„Irgendwann."

„Okay."

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt