Schimmerndes grau

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„Wieso bist du dann überhaupt mit mir mitgefahren? Jetzt musst du ja doch in die völlig andere Richtung."

Alex zuckte mit den Schultern. „Ich wollte eben noch mehr Zeit mit meinem besten Freund verbringen."

„Wir haben uns den ganzen Tag schon gesehen."

Heute war Alex eine Prinzessin. Eine Königin. Eine Göttin. Und der mutigste Mensch, den ich kannte. Sie war schöner als jedes Mädchen, das ich je gesehen hatte. Trotz der kurzen Haare. Oder gerade deshalb. Ihr Make-Up saß perfekt. Wie immer. Der Rock flatterte in kühlen Wind. Am Morgen hatte ich einen Schrecken bekommen, weil ich dachte, dass sie ja frieren musste. Allerdings trug Alex eine ziemlich schlaue Strumpfhose, die dicker war als sie aussah. Und die Bluse, die sie dazu trug, war wirklich schön. Ich würde sie mir ausborgen, um mir den Schnitt abzugucken. Heute konnte man Alex nicht ansehen, dass sie anders war als andere Mädchen.

Sie grinste mich an und fummelte an ihren Schal herum, der mehr die Größe einer Decke hatte. „Gehst du heute noch zu Tommy?"

„Nee." Ich schabte mit dem Fuß über den Boden der U-Bahnstation. „Nur am Wochenende. Übrigens... wenn es hart auf hart kommt..."

Meine beste Freundin kicherte. „Hart auf hart?"

„Haha!" Ich stieß ihr gegen die Schulter und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. „So meinte ich das gar nicht."

„Okay, ich bin ganz ernst." Alex stellte sich ganz gerade hin und starrte mir sachlich entgegen, was mich nur selbst zum Lachen brachte.

„Vielleicht... Also ich glaube, meine Mutter und mein Bruder denken, dass ich eine Freundin habe. Und äh... könnte ich dich als Alibi benutzen?"

Die Blondine salutierte. „Die Alibi-Freundin ist stets zu Diensten, Raffi!" Das ‚ist stets zu Diensten' brüllte sie viel zu laut über den Bahnsteig, sodass sich ein paar Leute zu uns umdrehten.

Schmunzeln schob ich ihre Hand wieder runter. „Danke! Ich wollte das nicht tun, ohne dich zu fragen." Noch immer hielt ich ihre Hand in meiner. Mit Alex war es so einfach. Miteinander Händchen halten. Sich küssen. Sogar in der Öffentlichkeit. Sie war ein so offener Mensch, dass ich manchmal vergaß, dass nicht jeder so war. Nicht jeder war Alex.

„Ich wäre gern deine Freundin." Kurz schimmerten ihre Äuglein verdächtig auf. Als würde sie jeden Moment zu weinen beginnen. Doch das verflog so schnell wie es gekommen war. Grinsend zwinkerte sie mir zu. „Super-Alex wird immer zur Stelle sein." Sie machte eine Heldenpose.

Lachend knuddelte ich sie kurz. „Okay. Du solltest jetzt wirklich..."

„Hey, guck mal! Der Mann sieht aus wie du. Also in älter..."

Ich drehte mich um. Es war gerade die Bahn aus der anderen Richtung eingefahren. „Scheiße..."

„Was ist denn?"

„Das ist mein..."

„Raffaele?" Natürlich hatte er mich entdeckt. Uns. Mein Vater steuerte auf uns zu. „Du bist wieder spät unterwegs." Er redete mehr als sonst. In letzter Zeit wechselte er öfter ein paar Worte mit mir. Worte, die nicht feindselig waren.

„Ja. Sieht so aus." Ich war etwas unschlüssig, was ich tun sollte.

„Du musst die Freundin sein, von der seine Mutter gesprochen hat." Er lächelte. Mein Vater lächelte Alex an und hielt ihr seine Hand entgegen. „Ich bin Antonio. Raffaeles Vater."

Alex blieb ganz locker und schüttelte Antonios Hand. „Freut mich. Ich bin Alex." Nicht einmal ihre Stimme verriet sie. Sie war so neutral, dass sie immer zu Alex' jeweiligen Auftreten passte.

Mein Vater lächelte sie noch einen Augenblick an, ehe er sich mir zuwandte. „Ich warte draußen auf dich."

Ich nickte leicht. „Bis gleich."

Meine Alibi-Freundin und ich sahen ihm nach, bis er komplett aus dem Blickfeld verschwunden war.

„Krank, dieses Augenpaar gibt es tatsächlich dreimal."

„Jap."

„Und wie gut, dass du mich drei Sekunden vorher noch warnen konntest."

„Tut mir leid, Alex." Ich sah die entschuldigend an und strich ihr sanft über den Ärmel ihres Mantels. „Ich mach das irgendwann wieder gut."

„Stell mir deine Brüder vor. Am besten den heißen."

„Woher willst du überhaupt wissen, dass ich einen süßen und einen heißen Bruder hab?"

„Hah! Du hast es zugegeben!", rief sie und lachte mich an.

„Du bist schrecklich."

„Du auch, Raffi." Alex legte ihre kalten Hände an meine Wangen. „Ich liebe dich, du mein fester Freund und Traumkerl", säuselte sie und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Das war nichts Neues. Und ich mochte sie dafür.

Ich sah meiner besten Freundin nach, als sie in ihre U-Bahn stieg. Sie drehte sich nochmal zu mir um und winkte. Bevor der Zug verschwand, war da wieder dieses Schimmern in ihren grauen Augen.

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt