Wahrheit

260 35 28
                                    

Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war irgendwas anders. Ein bedrückendes Gefühl legte sich mir auf Brust und Magen. Langsam zog ich meine Jacke aus. Mein Blick fiel auf den Mantel meines Vaters, der um diese Uhrzeit sonst nie im Flur hing, da er noch gar nicht Daheim sein dürfte. Ich war direkt zu uns gefahren, weshalb ich überpünktlich sein musste. Mein Vater hatte normalerweise viel später Feierabend.

Noch etwas war beunruhigend. Mamma stand nicht wie jeden Abend in der Küche. Sie kochte nichts. Überhaupt roch die Wohnung nicht nach Essen. Sie roch sonst immer nach Essen. Es fühlte sich an wie ein Traum. Wie ein ziemlich mieser Traum.

„Mamma?" Ich blieb in der Wohnzimmertür stehen.

Meine Mutter saß mit dem Rücken zu mir auf dem Sofa und sortierte Wäsche. Ihre Schultern zuckten immer wieder ein wenig auf. Sie weinte. Mamma weinte still und unterdrückte das Schluchzen. Ich war mir sicher, dass sie mich gehört hatte und es deshalb versuchte zu verstecken.

„Was ist denn los?", fragte ich und ging einen Schritt auf sie zu.

Die Italienerin schüttelte nur den Kopf. Sie hörte gar nicht mehr auf damit, während sie ein Kleidungsstück nach dem anderen faltete. Als sie mein Lieblingsshirt in den Händen hielt, hörte sie auf.

„Raffaele!"

Ich fuhr heftig zusammen und sah zu Babbo rüber, der aus unserem Zimmer kam. Er war nie in unserem Zimmer. Selbst, wenn er etwas von uns wollte, blieb er immer in der Tür stehen. Nie tat er auch nur einen Fuß in diese Müllbude.

„Komm her." Seine Stimme hatte einen strengen Unterton, der mich sofort klein fühlen ließ. Dieser Ton war mir wohl bekannt. So oft wie wir miteinander gestritten hatten. Immer hatte er sich so angehört. Streng und groß.

Ich warf Mamma noch einen Blick zu, ehe ich zu meinem Vater ging. Als ich an ihm vorbei sah, entdeckte ich Rico, der etwas verloren in unserem Saustall stand. Neben ihm Tommy. Beide sahen sprachlos aus. Das kam nicht oft vor.

„Was ist denn-"

Babbo unterbrach mich sofort. „Halt den Mund!"

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Seine braunen Augen schienen sich in meinen Kopf bohren zu wollen. Manchmal hatte ich Angst, er würde tatsächlich irgendwann meine Gedanken lesen können.

„Aber was ist denn-"

Der große Mann schlug mir einem Schnellhefter gegen die Brust, starrte auf mich herab. Mit meinen fast 17 Jahren war ich wirklich nicht klein. Aber in diesem Moment fühlte ich mich winziger als eine Ameise.

Ich nahm ihm die Mappe ab. Es lief mir kalt den Rücken runter, als ich erkannte, was darin abgeheftet war. Das waren die Unterlagen für meine Ausbildung. Ausbildungsvertrag, Abrechnungen. Alles, was mit meiner Arbeit zu tun hatte. Mit der Arbeit am Theater.

„Das ist aber ein merkwürdiger Herrenschneider. Findest du nicht auch, Raffaele?" Er schrie nicht. Doch wäre es dann vielleicht erträglicher gewesen.

Ich traute mich nicht, ihn anzusehen. Stattdessen betrachtete ich die Mappe in meinen Händen, die ich unter meinem Bett versteckt hatte. Keine Ahnung, ob meine Brüder davon gewusst hatten. Samu vielleicht. Aber der behielt Dinge für sich. Er trug meine Geheimnisse nicht zu unseren Eltern. Das hatte er noch nie getan. Also wieso sollte sich das geändert haben?

„Möchtest du etwas zu deiner Verteidigung sagen?"

Ich schüttelte den Kopf. Was hätte ich sagen sollen?

„Dachte ich's mir doch. Jetzt bist du plötzlich wieder ganz still, was?"

Ich spürte seinen wütenden Blick.

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt