Federico half unserem Vater das Gepäck zum Auto zu tragen. Samu war nicht da und Mamma bereitete ihr Reiseproviant vor. Ich würde mich später bei ihnen verabschieden, weshalb ich ein wenig die Ruhe im Zimmer genoss. Tommy war da. Aber er verhielt sich still. Er las in irgendeiner Zeitschrift. Wahrscheinlich las er gar nicht, sondern sah sich nur die Bilder an.
Aber das bekam ich gar nicht wirklich mit, da ich in meine Entwürfe vertieft war. Ich versuchte irgendwie die Schnittmuster zu kombinieren, die ich mir vor einigen Tagen im Stoffladen gekauft hatte. Da ich mein Handwerk erst lernte, stellte mich das doch vor Herausforderungen. Trotzdem war ich Feuer und Flamme für dieses Projekt. Es hatte nichts mit der Arbeit zu tun. Kein Kostüm für die nächste Aufführung. Das hier war etwas persönliches.
„Wo bist du immer mit deinen Gedanken?"
Das Lächeln verschwand. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich überhaupt gelächelt hatte. Ich setzte mich vorn auf meine Bettkante und sah zu dem besten Freund meines Bruders auf. Keine Ahnung, wie lang er schon vor meinem Bett gestanden hatte. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht."
Er schmunzelte und stützte sich mit einer Hand am oberen Etagenbett ab. „Was machst du?"
„Gar nichts."
„Sieht nicht nach gar nichts aus."
Ich zuckte nur mit den Schultern. Sein Kopf hing genau über mir. Wie sehr ich mich an diesen Anblick gewöhnen wollte. „Was willst du?"
Tommy betrachtete mich. Sein Blick wanderte über mein Gesicht. Ich fühlte mich widerlich, weil mich das anmachte. Es fühlte sich an, als wolle er mich auffressen. Als würde er mich mit seinen Augen ausziehen. Das war vollkommen lächerlich. Wieso sollte er das wollen? Es gab keinen Grund für meine Gedanken. Diese schmutzigen Gedanken. Die Vorstellungen, die mich in meinen Träumen verfolgten. Ich wollte es so sehr...
Automatisch streckte ich ihm mein Gesicht entgegen. Fast hätte ich sogar die Augen geschlossen, doch konnte ich mich zurückhalten. Seine Hand legte sich an meine Wange. Träumte ich? Sie war ganz warm. Zärtlich streichelte sein Daumen über meine Haut. Wahrscheinlich wurde ich rot. Wer würde da nicht rot werden?
Ich hielt es nicht mehr aus. Der hungrige Ausdruck in seinen grauen Augen. Deswegen schloss ich nun doch die meinen, hoffte, dass es gleich vorbei wäre. Dass er mich in Ruhe ließ. Dass er mir nicht noch mehr Hoffnungen machte. Sinnlose Hoffnungen. Welche, die wehtaten.
Es war wirklich ein Traum, oder? Seine Lippen waren ein wenig trocken. Er presste sie eher unsanft an die meinen. Das konnte nicht echt sein. Seine Finger vergruben sich in meinen Haaren, als er seinen Mund auf meinem bewegte.
Küsse. Alex und ich küssten uns ständig. Aber nicht so. So einen Kuss hatte ich noch nie erlebt. Einen, bei dem man die Lippen auf denen des anderen bewegte. Ein Kuss, bei dem man seinen Gegenüber schmecken konnte. Tommys Zunge ärgerte meine. Weil ich nicht recht wusste, wie sowas funktionierte, tat ich einfach, was er tat.
Ich konnte nicht klar denken. Eigentlich konnte ich an rein gar nichts denken. Mein Kopf war völlig leer. Funkstille. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Atmete ich überhaupt noch?
Mir entfuhr ein Wimmern, als Tommy sich von mir löste. Er war irgendwie verschwommen. Als wäre ich gerade erst aufgewacht. Wie von allein, leckte ich mir über die Unterlippe. Ich versuchte zu Atem zu kommen.
Noch immer hielt er sich am oberen Bett fest. Wie konnte ein Mensch dabei so heiß aussehen? Er zog seine Griffeln aus meinen Haaren und fuhr sich damit durch die eigenen. Ich keuchte auf, als er seinen Fuß viel zu fest auf meinen Schritt drückte. „Macht dich sowas geil?"
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wollte er überhaupt eine Antwort von mir? Ich war einfach nur verwirrt. Sein Verhalten ergab keinen Sinn. Diese Situation war völlig absurd.
Tommy hob den Fuß und stieß damit gegen mein Brustbein. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kippte nach hinten und schlug mir den Kopf an der Wand an. Es schmerzte...
„Scheiß Schwuchtel."
Keine Ahnung, was schlimmer war. Seine Worte. Diese hirnlose Aussage. Oder seine Geste, die darauf folgte. Der angewiderte Blick, als er sich mit dem Ärmel über den Mund wischte.
Ohne ein weiteres Wort, ließ er mich allein im Zimmer zurück. Ich biss mir auf die Unterlippe, hielt mir den Hinterkopf. Der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Luft ab.
Nicht heulen... Nicht heulen!
Ein Schluchzer purzelte mir aus der Kehle, obwohl ich tapfer die Tränen zurückhielt.
Jämmerlich. Ich war so unglaublich erbärmlich! „Scheiße..." Beschämt zog ich die Beine an und zupfte an meiner Jeans, die durch den Kuss unerträglich eng geworden war. Ich wartete ab, dass es einfach vorbeiging, während ich in meinem Kummer versank.
Zigaretten, Pfefferminzkaugummi und Erniedrigung. Dieser verdammte Kuss hatte einen miesen Nachgeschmack.
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Wolke null [boyxboy]
Fiksi RemajaDer 16-jährige Raffaele hat es nicht immer leicht. Seine Brüder gehen ihm auf die Nerven und dem Vater kann er es auch nicht recht machen. Und dann ist da noch Tommy... Schweigen, Lügen und die erste Liebe. Dies ist ein Einblick in die Vergangenheit...