In der Nacht

291 36 28
                                    

Wie immer war ich bis spät in die Nacht wach. Ich arbeitete an dem Kleid, das ich mit Hilfe der gekauften Schnittmuster entworfen hatte. Camilla hatte mir bei der Stoffauswahl geholfen.

Seufzend erhob ich mich vom Wohnzimmerfußboden. Dort hatte ich den Stoff ausgebreitet, um die einzelnen Teile zuzuschneiden. Im Schlafzimmer war zu wenig Platz dafür.

Wie jede Nacht trat ich hinaus auf den Balkon. Es war kühl. Ich blickte hinab zum Eingang. Seit Tommy verschwunden war, hielt ich jede Nacht Ausschau, ob er wieder dort unten herumlungerte. Ich hoffte, ihn zu entdecken, um wieder mit ihm spazieren zu gehen. Um ihn vielleicht zu küssen. Ihm nahe zu sein. Ich vermisste ihn.

Wie jede Nacht war meine Suche nach ihm vergeblich. Er war nicht da. Rico wollte ich nicht nach Tommy fragen. Das wäre merkwürdig. Immerhin hatte ich ja nichts mit ihm zu schaffen. Und Samu war sowieso schon misstrauisch. Ihm wollte ich erstrecht nicht unter die Nase reiben, dass ich mich fragte, wo Tommy steckte.

Die ganze darauf folgende Woche kam kein Zeichen von ihm. In der Nacht auf Dienstag entdeckte ich ihn schließlich rauchend bei den Fahrradständern. Ohne zu zögern verschwand ich in die Wohnung, wo ich mir etwas überzog, um zu ihm runter zu fahren.

Ich zog den Reißverschluss meiner Lederjacke zu. Es war kälter geworden seit unserem letzten Spaziergang.

Wie beim letzten Mal machte er seine Kippe aus und stieß sich von Fahrradständer ab. Ohne ein Wort lief er los. Und ohne ein Wort folgte ich ihm. Ich mochte es, neben ihm zu gehen. Das Schweigen störte mich nicht, doch brannte eine Frage auf meiner Zunge.

„Wo warst du die ganze Woche?"

Tommy warf mir einen Blick von der Seite zu und schob seine Hände in die Hosentaschen. Ich hätte gern seine Hand gehalten.

„Du musst es mir nicht sagen..."

„Ich hab mich gekümmert."

Ich nickte leicht, wollte nicht zu aufdringlich sein. Ihm nicht auf die Nerven gehen.

„Ich hab jetzt einen Job. Und eine Wohnung..."

Wieder nickte ich. „Das klingt doch gut."

„Beides nichts besonderes. Aber besser als nichts." Das erste Mal, seit ich ihn kenne, wirkte er irgendwie vernünftig. Erwachsen. Er erzählte mir von dem Supermarkt, wo er jetzt die Regale einräumte. Er hatte Recht. Es war nichts besonderes. „Aber einen wie mich nimmt sonst auch keiner", redete er weiter. In dieser Nacht sprach er so viel, dass es mir fremd vorkam. Ich erinnerte mich nicht, wann er das letzte Mal so viele Worte zu mir gesagt hatte.

„Wie meinst du das denn?"

„Na ja mein Lebenslauf sieht nunmal nicht so rosig aus." Er lachte bitter auf. „Scheiße."

„Ich versteh nicht, was du..." Ich kam mir total blöd vor.

„Raffaele."

Mir gefiel wie er meinen Namen sagte.

„Ich hab meine Schule nicht beendet."

„Warum? Ich dachte, du wärst mit Rico in einer Klasse gewesen." Mein Bruder war nicht der beste Schüler gewesen. Aber immerhin hatte er einen Abschluss gemacht. Sogar einen höheren als ich. Keine Ahnung, ob der mit dem besseren Abschluss etwas erreichen wollte oder aus Bequemlichkeit in der Schule geblieben war.

Tommy schnipste mir gegen die Stirn. „Dummkopf."

Ich rieb mir über die Stelle. „Ich schnall es nicht."

„Kurz vorm Abschluss von Rico. Vor zwei Jahren. Hast du mich da noch irgendwo gesehen?"

„Nein." Daran erinnerte ich mich gut. Tommy war immer präsent gewesen. Außer in diesen letzten zwei Jahren.

„Ich konnte den Abschluss nicht machen. Nur nachholen. Aber auf die Kacke kann ich verzichten."

„Wo warst du denn?"

„Mann, ich hab gesessen", brummte er und nahm sich eine Kippe aus seiner Schachtel. Er klemmte sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Es war bescheuert, aber irgendwie sah er heiß aus, wenn er rauchte.

„Du meinst..."

„Bingo, Kleiner. Eingebuchtet. Knast. Zwei verdammte Jahre."

War es merkwürdig, dass es mich nicht abschreckte? Dass ich ihn deswegen nicht weniger mochte?

Ich hatte nicht gefragt, aber er redete trotzdem weiter. „Da waren diese Typen, die uns provozieren wollten. Na ja. Es hat geklappt. Wir haben sie vermöbelt. Dummerweise hat das irgendwer gesehen und die Bullen gerufen. Die anderen hatten Glück. Ich bin ihnen direkt in die Arme gelaufen. Tja, Pech gehabt. Wir hatten die Typen übel dran gekriegt. Nicht übel genug. Sie konnten aussagen und Zack! Da hatte ich die Scheiße."

Ich betrachtete Tommy von der Seite, während wir durch die Straßen liefen. Keine Ahnung, was ich dazu hätte sagen sollen. Körperverletzung. Mir fiel dazu nichts ein. Es war nicht mein Bier. Ich hatte keine Straftat begangen, sondern er.

„Jetzt hältst du mich sicher für ein Monster", murmelte er und zog an seiner Zigarette.

„Du bist ein Arschloch. Aber bestimmt kein Monster." Vielleicht war er vor zwei Jahren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Er hatte jemanden verprügelt. Aber machte ihn das zu einem Monster? Kann sein, dass ich es anders sehen würde, wenn ich nicht in ihn verliebt wäre. Kann sein, dass mich das blind machte. Kann sein, dass es mich ebenfalls zum Monster machte, weil es mir egal war.

Tommy blieb stehen. Eine Weile starrte er auf seine Füße, ehe sich unsere Blicke trafen. „Du bist ein Guter."

Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Es erwiderten? Nein. Er war vielleicht kein Monster. Aber ein guter Mensch war er auch nicht. „Hm." Nun sah ich auf meine Füße.

Der beste Freund meines Bruders legte seine Hand in meinen Nacken und zog mich ein bisschen näher an sich heran. Er sagte nichts. Tommy griff nach meiner Hand und legte etwas kaltes hinein.

„Was ist das?"

„Ein Schlüssel."

„Das sehe ich. Aber wofür?"

Er ging zwei Schritte zurück und deutete auf die Tür, vor der wir standen. „Für meine Wohnung."

Was...? Ich starrte ihn verwirrt an.

Tommy schob die Eingangstür auf. Sie war nicht abgeschlossen. „Kommst du mit rauf?"

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt