Beschützer

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Brummend vergrub ich mein Gesicht in dem Kissen, das so sehr nach ihm roch. Es nervte mich, dass mich allein sein Geruch erregte. Sein Duft umhüllte mich und ließ die aufkommenden Kopfschmerzen in den Hintergrund rücken. Ich rieb seufzend meine Mitte an der Matratze und tastete die andere Seite des Bettes ab. Doch sie war leer. Leer und kalt. Als hätte seit Stunden niemand mehr dort gelegen.

Ich hob mein Gesicht aus den Kissen. Kurz mussten sich meine müden Augen an die Helligkeit gewöhnen, ehe ich meinen Blick durch die Einzimmerwohnung gleiten ließ. Die Badezimmertür stand offen. Alles still. Ich war allein. Wie so häufig, wenn ich am Morgen danach bei ihm aufwachte.

Ich presste die Faust an meinen Brustkorb. Gewöhnte man sich jemals an diesen Schmerz? War es zu viel verlangt, nur hin und wieder neben seinem Geliebten aufzuwachen? In seinen Armen zu liegen? Zu kuscheln und der Rest der Welt war völlig egal? Es war so schrecklich unfair.

Wütend wischte ich mir die einzelne Träne weg, die sich aus meinen Augen gestohlen hatte. Weinen würde mir auch nicht helfen. Das würde das Stechen in meiner Brust nicht weniger Schmerzhaft machen.

Ich schlug die Decke zurück. Mühsam rappelte ich mich von der Matratze auf und zog mir den Anzug vom Vorabend wieder an. Obwohl ich wusste, dass es vergeblich war, scannte ich die Bude nach einer Nachricht ab. Ein Zettel mit ein paar lieben Worten oder einer Info, dass er bald zurück sein würde. Ein kleiner Hinweis, wo er war. Ein Zeichen, dass ich ihm etwas bedeutete und er seine Gründe hatte, mich allein in seinem Bett zurückzulassen. Aber es gab nichts, was ich hätte finden sollen.

Schniefend zog ich mir die unbequemen Schuhe über die Füße und rieb mir mit den Ärmeln über das Gesicht. „Hör auf zu heulen...", flüsterte ich.

Ich nahm mir einen alten Kassenzettel, der auf der Arbeitsplatte lag und krickelte selbst eine kleine Nachricht drauf. Vielleicht brauchte er nur einen kleinen Anstoß? Vielleicht kam er von allein nicht auf solche Ideen?

‚Die letzte Nacht war sehr schön mit dir. Schade, dass du schon weg warst. Ich liebe dich!'

Ich legte den Zettel aufs Kopfkissen, ehe ich die Wohnung und das Gebäude verließ.

Es war fast Mittag. Durch den Alkohol hatte ich länger schlafen können als normalerweise. Trotz der Uhrzeit war es still auf den Straßen. So still, dass es mir fast Angst machte. Der Dreck von den Feuerwerken und Böllern und Knallerbsen lag überall verteilt. Niemand hatte sich in der Nacht die Mühe gemacht, den Müll aufzuräumen. Und auch die nächsten Tage würde es hier rumliegen und im Schnee und Regen zermatschen, bis keiner es mehr von Hundescheiße unterscheiden konnte.

Ich schreckte aus meinen Gedanken, als mir ein Tritt in den Hintern verpasst wurde. „Tut der Arsch noch weh oder gewöhnt man sich irgendwann dran?" Samuele hopste ein paar Mal, bis er mit seinen kurzen Beinen mit mir Schritt halten konnte.

„Halt's Maul", brummte ich. Weder mein dröhnender Kopf, noch mein schweres Herz hatten Bock auf sein dummes Gelaber.

„Er war schon weg, hm?"

„Was willst du von mir? Ich war mit Alex weg."

„Aber danach warst du bei Tommy. Ich bin nicht dumm. Du riechst anders, wenn du bei ihm warst."

Ich starrte meinen älteren Bruder einen Moment an, ehe ich mir mein Hemd bis zur Nase hochzog. Mir war es nie aufgefallen, dass ich nach ihm roch, nachdem ich bei ihm geschlafen hatte.

Kurz vor unserem Hochhaus, packte mein Bruder mit am Arm und zog mich zur Seite. „Raffaele, hör mir zu."

„Ich check nicht, was du von mir willst!" Wütend entriss ich ihm meinen Arm.

„Dass du 'ne Schwuchtel bist, kann ich nicht ändern. Mann, dann ist das eben so", seine Stimme war nicht mehr als ein aggressives Flüstern. „Dann lutscht du eben Schwänze und hältst Typen deinen Arsch hin."

Ich schubste Samu gegen eine Laterne. „Das geht dich überhaupt nichts an!"

Er packte mich am Hemdkragen und zog mich zu sich runter. „Das geht mich in der Tat nichts an." Er spuckte mir beim Reden ins Gesicht. Samuele war aufgebracht. Wahrscheinlich wütender als ich selbst. „Raffi, es geht mir darum, wem du deinen Hintern entgegenstreckst. Du kennst den Typen fast dein ganzes Leben. Du kennst ihn! Du weißt, wie der drauf ist. Wie er dich behandelt und was für ein scheiß Arschloch er ist. Er vögelt irgendwelche Mädels zum Spaß und schupst sie in den Dreck, wenn er mit ihnen fertig ist. Ich will nicht, dass er dir auch das Herz bricht!"

Ich versuchte mich von seinem Griff zu lösen. Vergeblich. Obwohl Samu kleiner war als ich, hatte er viel mehr Kraft. Das Boxtraining, das er machen durfte, weil er im Club saubermachte, zahlte sich aus. „Du hast keine Ahnung!"

„Hab ich nicht?" Er knallte seine Stirn gegen meine. „Denk mal nach! Hör zu, was dein Gefühl dir sagt. Und damit meine ich nicht dieses rosa flauschige, das dich eintütet und alles durch eine pinke Brille sehen lässt."

„Er ist ganz anders, wenn wir alleine sind..." Ich versuchte seinem Blick auszuweichen. Diesen Augen, die sich schon mein ganzes Leben lang bis in meine Seele bohrten.

„Dann wünschte ich dir, dass ich mich irre." Mein Bruder stieß mich von sich. „Ich will dich nur beschützen, Raffi."

„Seit wann das denn?" Ich richtete es meine Klamotten, an denen er so gezerrt hatte.

„Schon immer. Oder was meinst du, wieso die dich in der Schule meistens in Ruhe gelassen haben? Im Grunde war allen schon immer klar, dass irgendwas mit dir nicht stimmt. Aber sie haben dich nicht angerührt. Frag dich mal, warum!" Er schob seine Hände in die Jackentaschen und marschierte voran.

Ich stand da und starrte meinem Bruder hinterher. Hatte er wirklich immer auf mich aufgepasst? Er hatte Recht. In der Schule hatten sie mich manchmal geärgert. Es waren Worte wie „Schwuchtel" und „scheiß Homo" gefallen, obwohl niemand Beweise hatte. Aber ich war nie so am Arsch gewesen wie der andere Typ, von dem alle dachten, er wäre schwul.

„Jetzt komm schon!" Samuele drehte sich zu mir um und grinste mich blöd an. „Ohne dich komm ich nicht rein. Hab meinen Schlüssel vergessen."

Ich setzte mich in Bewegung. Vielleicht wollte mein Bruder mich wirklich nur beschützen?

Wolke null [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt