Ich fixiere die Uhr wie eine Zielscheibe. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit bewegt sich der Zeiger in Zeitlupe, dass ich langsam daran zweifle, dass er endlich bei der Nummer ankommt, nach der ich mich so sehr sehne. Frustriert schaue ich zu dem großen Stapel, der neben meinem Computer platziert ist und wünsche mir, dass er sich einfach in Luft auflöst. Schon seit mehreren Stunden bin ich nur damit beschäftigt, mir einen Text nach dem anderen durchzulesen und alles Relevante in einem Dokument zu notieren. Trotzdem scheint der Berg nicht kleiner zu werden und ich werde morgen sicherlich genauso viele Stunden daran sitzen wie heute. Frustriert streiche ich mir eine lästige rote Haarsträhne aus dem Gesicht und versuche sie mir hinter das Ohr zu klemmen. Erneut lese ich den letzten Absatz auf dem Zettel vor mir und versuche, die wichtigsten Einzelheiten herauszulesen. Doch es hat keinen Sinn, schon länger ergeben die Worte keinen Sinn mehr in meinem Kopf, weshalb ich das Blatt wieder auf den unfertigen Stapel ablege und das Dokument auf meinem Bildschirm schließe. Heute würde ich sowieso nichts mehr fertig bekommen. So ordentlich es geht, verstaue ich die unfertigen Papiere in eine Akte und stelle sie auf das Regal, das neben meinem Schreibtisch platziert war. Alles, was ich heute geschafft habe, mache ich in einen anderen Ordner und lege ihn zur Seite, damit ich ihn nicht mehr sehen muss. Ein erneuter Blick auf die Uhr an meiner Wand verrät mir, dass immer noch nicht genug Zeit vergangen war, aber das bringt mich trotzdem nicht davon ab von meinem Arbeitsplatz aufzustehen und mich erstmal ausgiebig zu strecken. Ich bin einfach nicht dafür gemacht, den ganzen Tag nur an meinem Schreibtisch zu sitzen. Müde ziehe ich mein Handy aus der Tasche und werfe einen Blick darauf. Sofort erhellt sich meine Stimmung, wenn ich eine Nachricht von jemand ganz bestimmten erkenne: >>Bin fertig für heute. Lust früher abzuhauen und Pizza essen zu gehen?<< Froh darüber, dass anscheinend nicht nur ich heute keine Motivation habe, schicke ich ihm einen einfachen Daumen nach oben und nehme meinen Mantel vom Stuhl. Auf Xavier war, was sowas angeht, immer verlass, auch wenn er den Job deutlich lieber macht als ich, kam es nicht selten vor, dass er lieber früher nach Hause gehen will. Ich werfe mir das lange Kleidungsstück über die Schulter und greife nach meiner Tasche, die ich auf dem Boden abgestellt hatte. Mit schnellen Schritten verlasse ich mein Büro und es dauert nicht lange, bis ich Xavier erkenne, der an der Wand gelehnt steht, Anzugjacke in der einen und sein Handy in der anderen Hand. „So wirst du aber kein Mitarbeiter des Monats", mache ich auf mich aufmerksam und der Ältere zuckt merklich zusammen. Seine blonden Haare, die heute Morgen noch perfekt gestylt waren, fallen ihm mittlerweile ins Gesicht. „Ach, du weißt doch, Jenny liebt mich. Selbst wenn ich nur jeden zweiten Tag kommen würde, würde sie mir noch eine Gehaltserhöhung vorschlagen." Damit hatte er nicht unrecht. Jenny war unsere Abteilungsleiterin und mochte Xavier mehr als sie je zugeben würde. Gespielt böse schlage ich ihm vor die Brust, was ihn theatralisch aufstöhnen lässt. „Ist da etwa jemand eifersüchtig?", fragt er und wackelt spielerisch mit seinen Augenbrauen. Wenige Sekunden später beginnen wir beide zu lachen und verlassen zusammen das große Gebäude. Xavier. Mein bester Freund seit drei Jahren, er wäre der letzte, mit dem ich mir eine Beziehung vorstellen konnte. Ich muss schon ehrlich zugeben, dass er mit seinen blonden Haaren, die egal wie durcheinander sie sind, immer perfekt zu liegen scheinen, seinen meerblauen Augen und seinen perlweißen Zähnen ziemlich gut aussah. Eigentlich traf er sogar genau meinen Geschmack, er hatte nur einen entscheidenden Hacken. Er war ein Mann. „Wollen wir zu Gios oder dem Landen an der Ecke?", fragt er mich mit seinem typischen Grinsen auf den Lippen. Während er auf eine Antwort wartet, sucht er schon mal nach den entsprechenden Speisekarten, um sich etwas auszusuchen. „Ich würde sagen, Gios. Wir waren schon länger nicht bei ihm", schlage ich vor und Xavier nickt begeistert. Ich brauche gar nicht erst auf die Karte zu schauen, nehme ich sowieso immer das Gleiche. Die Pizzeria ist zum Glück nur wenige Straßen von unserer Firma entfernt, weshalb wir schon nach kurzer Zeit vor dem richtigen Gebäude stehen. Mit Schwung öffnet mein bester Freund die Tür und lässt mir den Vortritt. Ein waschechter Gentleman. „Ah, da sind sie ja. Meine Lieblingsgäste", werden wir von Gio in Empfang genommen. Gio hat den Laden vor ein paar Jahren erst aufgemacht, war er gerade erst nach Amerika gezogen, um mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen zu sein. Sein italienischer Akzent war noch sehr deutlich, aber auch sein Markenzeichen, weshalb ich mir ein Schmunzeln jedes Mal, wenn ich ihn sah, nicht verkneifen konnte. Xavier und ich waren eine seiner ersten Gäste, weshalb er uns gleich als seine absoluten Lieblingsgäste ausgesucht hat. Aus diesem Grund gehen wir beide mittlerweile fast jede Woche bei ihm vorbei und blieben nicht selten bis zum späten Abend dort. Wir lassen uns an unseren Stammtisch ganz hinten in der Ecke nieder und Xavier hängt unsere Jacken an den entsprechenden Hacken an der Wand. Ich ziehe die Ärmel meiner weißen Bluse nach oben, da es doch relativ warm in dem Lokal war und binde meine Haare zu einem lockeren Zopf zusammen. „Was kann ich meine Bambinis bringen?", möchte Gio von uns wissen und schaut uns mit seinem leicht zahnlosen Lächeln an. „Ich nehme heute mal die Nummer 24 und eine Cola", antwortet ihm mein Gegenüber und Gio nickt wissend. Einen Zettel oder einen Stift braucht er nicht. Er hat noch nie eine Bestellung verwechselt oder falsch gemacht. Der kleine Pizzabäcker wusste immer, was seine Gäste von ihm wollen. „Ich nehme das übliche", räuspere ich mich, was Gio und auch Xavier mit dem Kopf schütteln lässt. „Wie kann man nur immer das gleiche Essen?", will der Blonde von mir wissen und erhält deutlich Zustimmung von dem Mann neben ihm. „Du müssen deine Frau klarmachen, dass es mehr als Margarita gibt". Damit verschwindet er zwischen den ganzen Tischen und macht sich auf den Weg in die Küche. Deine Frau. Schon seit er uns beide kennt, nennt er mich seine Frau oder Xavier meinen Mann. Denn Gio fehlt ein entscheidendes Detail. Ich stehe auf Frauen und Xavier und ich befinden uns in keiner Beziehung. Doch das ist niemand anderen klar, außer uns Beiden. Schon seit drei Jahren führen wir nach außen hin eine perfekte Beziehung, wenn wir in Wirklichkeit einfach nur beste Freunde sind. „Und bist du mit deinen Papieren vorangekommen?", reißt eben dieser mich wieder aus meinen Gedanken. „Es geht, definitiv besser als gestern, aber von fertig bin ich noch weit entfernt", erkläre ich ihm und er stimmt mir zu. „Nachdem ich aber den einen Zettel fünfmal lesen musste, habe ich beschlossen, dass es für heute genug ist." „Mir ging es nicht anders. Ich konnte kaum noch einen zusammenhängenden Satz schreiben", stimme ich ihm zu und wir unterhalten uns noch eine ganze Weile über die Arbeit, bis der Italiener wieder zu uns kam, um uns unser Essen auf den Tisch zu stellen. „Danke Gio", erwidere ich lächelnd, was er mit einer kurzen Verbeugung kommentiert, bevor er sich wieder auf den Weg zu anderen Kunden macht. Um diese Uhrzeit war das kleine Lokal sehr gut gefüllt und der Küchenchef, der viel zu gerne mit seinen Kunden ins Quatschen kommt, hat alle Hände voll zu tun. Wir beginnen mit dem Essen, doch während ich mir deutlich länger Zeit lasse, verschlingt der noch junge Geschäftsmann in einer unglaublichen Geschwindigkeit die ersten Stücke seiner Pizza. Die Pizza sah wirklich interessant aus mit den unterschiedlichen Gemüsesorten, doch ich blieb lieber bei meiner Margarita. Bei der weiß ich immer das sie schmeckt. Es schaut auch keiner als wäre ich ein Staatsverbrecher, wie wenn ich beispielsweise eine mit Ananas bestellen würde. Xavier hat einmal eine Pizza Hawaii bestellt und es sofort bereut, er hat sie zwar Gio zu liebe aufgegessen, aber geschworen nie wieder so etwas zu bestellen. Er isst wirklich viele Gerichte, aber auf eine Pizza gehört keine Ananas. Während ich gerade mal bei der Hälfte bin, hat mein Gegenüber schon alle Stücke verputzt und überlegt schon, was er zum Nachtisch essen soll. „Also ich verstehe wirklich nicht, wie du immer so lange für dein Essen brauchen kannst, vor allem wenn es so unfassbar lecker schmeckt." Schon immer achte ich sehr darauf, mein Essen nicht zu schnell herunterzuschlingen. Sehr früh hat meiner Mutter mir beigebracht, dass eine junge Dame nicht schlingt und es vor allem gesünder ist, da das Sättigungsgefühl schneller einsetzt und man nicht mehr isst als nötig. Auch meine Freundinnen von früher, haben nicht viel schneller gegessen, weshalb ich es mittlerweile gewohnt war. „Ich habe dir schon mehrmals erklärt, warum. Während du jetzt noch Geld für ein Eis oder so ausgibst, bin ich mit meiner Pizza vollkommen zufrieden." Er verdreht die Augen. „Erstens ist Geld eines unserer geringsten Probleme und zweitens gibst du durch deine Margarita mit Wasser sowieso viel weniger Geld aus als ich". Ich zucke mit den Schultern und beginne mein letztes Stück klein zu kauen. Nachdem wir beide unsere Teller aufgegessen haben und auch Xavier sein Schokoladeneis verdrückt hat, sitzen wir einfach nur zusammen und unterhalten uns über Gott und die Welt. Mit ihm war es so einfach, hier an einem Tisch zu sitzen und einfach nur zu reden, ohne dass uns langweilig wird. Xavier ist jemand, der einem immer aufmerksam zuhört, egal wie unwichtig die Information ist, die man ihm gibt, er schweift nie vom Gespräch ab. Trotzdem ist er auch ziemlich ehrlich, was nicht jeder immer so gut aufnimmt. Er sagt einem immer seine direkte Meinung zu einem Thema, was den ein oder anderen etwas vor den Kopf stoßen kann, aber ich hatte mich mittlerweile daran gewöhnt und nahm mir nicht alles, was er sagt zu Herzen. Durch sein gutes Aussehen fiel es ihm nicht schwer, die Aufmerksamkeit anderer Mädchen auf sich zu ziehen, aber er achtet darauf nicht. Zum einen, weil er mit mir in einer „Beziehung" ist und zum anderen, weil er sich erstmal mehr auf sich konzentrieren will. Ich war für ihn also ein perfektes Alibi, wenn ein Mädchen mal nicht verstehen sollte, dass er nicht interessiert ist.
„Ich muss mal auf die Toilette, bin gleich wieder zurück", unterbreche ich ihn, während er über einen Kunden spricht, der ihn heute bis zu Weißglut getrieben hatte. „Mach das. Soll ich schonmal bezahlen oder noch auf dich warten?", will er von mir wissen. Ich werfe einen kurzen Blick auf mein Handy, dass ich auf den Tisch gelegt hatte. „Bezahl ruhig schon. Es ist ziemlich spät und ich könnte langsam echt eine Runde Schlaf gebrauchen", fordere ich ihn auf und ziehe mein Portmonee aus der Tasche. Xavier winkt sofort ab. „Ich bin diese Woche dran." Da wir die Regel so festgelegt haben, fange ich gar nicht erst damit an, mit ihm zu diskutieren.
Ich versuche mich auf der Toilette so gut es geht zu beeilen und trete dann zum Waschbecken. Der Spiegel, der über dem Becken platziert war, ist nicht mehr der Neuste. Er war ziemlich dreckig und macht es damit deutlich schwerer mein Spiegelbild zu erkennen, an manchen Stellen fehlt sogar schon eine kleine Ecke. Während ich meine Hände unter das kalte Wasser halte, betrachte ich mein Gesicht. Durch die leichten Augenringe, die durch mein Make-up hindurchscheinen, ist klar zu erkennen, dass ich schon eine ganze Weile auf den Beinen war. Das Blau meiner Augen ist ebenfalls deutlich dunkler als normalerweise und meine Haare, die ich nach dem Essen wieder geöffnet habe, liegen schlaff auf meinen Schultern. Das Rot ist aber auch in dem dreckigen Spiegel zu erkennen. Seufzend binde ich sie mir wieder zu einem ordentlichen Zopf zusammen, damit nicht jeder, der mich sieht, auf den Gedanken kam, dass meine Zeit heute Morgen nur für trocken Haarshampoo gereicht hat. Auch wenn ich längst fertig war mit Händewaschen, kann ich meinen Blick nicht von meinem Spiegelbild abwenden. Schon seit dem ich klein bin, mochte ich meine Haare nicht sonderlich. Egal wo ich hinging, das Erste, was den Menschen auffällt, ist das rote Feuer auf meinen Kopf, dass durch die richtigen Lichtverhältnisse aussieht, als würde es auch noch leuchten. Meine Eltern haben beide eine andere Haarfarbe als ich. Während meine Mutter pechschwarzes Haar besitzt wie Schneewittchen, waren die von meinem Vater braun. Ich hatte die Farbe von meiner Oma geerbt väterlicherseits, diese war so unfassbar stolz gewesen, dass sie diese doch weiter gegeben hat, aber ich konnte ihre Freunde nicht mit ihr teilen.
Damit Xavier nicht denkt, dass ich ins Klo gefallen bin, löse ich mich schlussendlich von dem Spiegel und mache mich auf den Weg zurück ins Lokal. Sofort erschlägt mich die Lautstärke, die in dem etwas zu kleinen Raum herrscht und die leicht stickige Luft. Mein bester Freund kommt in mein Sichtfeld und ich hebe überrascht eine Augenbraue nach oben, wenn ich ihn mit meinem Handy in der Hand am Telefonieren sehe. Ich hatte grundsätzlich nichts dagegen, wenn er für mich mal einen Anruf entgegennimmt, trotzdem kann ich die aufkommende Neugier nicht verhindern. Sobald ich nah genug an ihn herantrete, kann ich aufschnappen, was er sagt. „Ja, natürlich werde ich es ihr weiterleiten. Sie wird sich sehr freuen. Ja, die deutsche Nationalmannschaft ist eine Chance, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Alles klar. Vielen Dank für ihren Anruf. Danke. Einen schönen Abend noch."
Habe ich das gerade richtig verstanden? Die deutsche Nationalmannschaft? Wer war da am Telefon und was ist eine echte Chance für mich?So das erste Kapitel ist geschafft. Schreibt mir doch gerne eure Meinung dazu. Beim nächsten Kapitel geht es auch etwas mehr um Fußball.
Was sagt ihr zu Maeve und Xavier?
Euch noch einen schönen Tag. Bleibt gesund und passt auf euch auf!
:)
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2018 // laura freigang
FanfictionEs kommt eine Zeit in deinem Leben, in der du dich entscheiden musst, ob du die Seite umblättern, ein neues Buch schreiben oder es einfach schließen willst. Maeve sind eigene Entscheidungen immer sehr schwer gefallen. Sie hat immer jemanden anderen...