twenty

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Ein lautes Vibrieren holt mich aus dem Schlaf. Ist es wirklich schon so weit? Aber mein Wecker klingt doch ganz anders. Außerdem müssten doch auch die Wecker der anderen klingeln. Frustriert greife ich nach meinem Handy auf dem Nachttisch und erkenne das Bild meines besten Freundes auf dem Display. Schnell schalte ich den Ton auf Stumm und schlüpfe aus dem Bett. So leise wie möglich schließe ich mich im Bad ein und drücke auf den Hörer. „Xavier. Warum rufst du mich so früh an?", frage ich ihn und meine Stimme bricht ein wenig. Wahrscheinlich von dem ganzen Weinen gestern und dem Fakt, dass ich gerade erst aufgestanden bin. „Tut mir leid, aber deine Eltern wollen unbedingt nochmal mit dir reden und ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll", erklärt er mir und ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen. Am liebsten wäre es mir, sie würden einfach wieder abreisen und mich in Ruhe lassen. „Ich bin übrigens echt stolz auf dich", ergänzt er plötzlich und ich ziehe die Stirn kraus. „Warum denn das?", frage ich ihn verwirrt und stütze mich mit den Beinen an der Wand ab, während ich mich auf der anderen Seite mit meinem Rücken anlehne. „Du hast es ihnen endlich gesagt", klärt er mich auf und ich schließe die Augen. Nachdem ich gestern Abend nur noch an Laura denken konnte, hatte ich das vollkommen verdrängt. Sie warten wahrscheinlich auf Antworten. Eine Erklärung.

„Ich werde erst heute Abend nach dem Spiel mit ihnen reden können", stelle ich fest und merke, wie ich bei dem Gedanken nervös werde. In den letzten Tagen war ich so sehr mit Laura und meinen Eltern beschäftigt, dass ich irgendwie den Fokus verloren habe. Ich spiele heute mein erstes Spiel für die Nationalmannschaft, auch wenn es nur ein Testspiel ist. In den letzten Tagen sind die Trainingseinheiten und die Besprechungen nur so an mir vorbeigezogen und jetzt ist es fast schon wieder vorbei. Heute ist damit Schluss. Heute zählt nur Fußball. Nicht meine Eltern und auch nicht Laura. Nur das Spiel. „Okay, ich sag ihnen das. Hoffentlich könnt ihr heute Abend ein richtiges Gespräch führen und dass die beiden sich wieder beruhigt haben." Das hoffe ich auch, aber die Chancen stehen nicht sonderlich hoch.

Danach legen wir auch schon auf und ich schaue das erste Mal in den Spiegel. Ich sehe wirklich grauenvoll aus. Durch das Weinen waren meine Augen ziemlich rot und geschwollen. Meine Haare hängen nur platt auf meinem Kopf und auch sonst sehe ich wirklich einfach nur müde aus. Deswegen entscheide ich mich erstmal dafür duschen zu gehen. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr. Das warme Wasser tut unheimlich gut und am liebsten würde ich einfach eine Ewigkeit darunter stehen bleiben. Ich schließe einfach die Augen, verschränke die Arme vor der Brust und genieße die Ruhe, die ich dabei fühle. Am Ende stelle ich das Wasser jedoch auf kalt, um wirklich richtig wach zu werden und verlasse dann leicht zitternd die Dusche. Die nassen Haare binde ich schließlich zu einem Dutt und mache mich dann schnell auf den Weg in unser Zimmer. Bekleidet nur mit einem Handtuch, da ich keine Klamotten mitgenommen habe, als Xavier angerufen hat, tapse ich in das deutlich kühlere Zimmer und mache mich auf den Weg zu meinem Schrank. „Schon wach?", höre ich die Stimme von Lea hinter mir, die mich für einen Augenblick vollkommen zusammen zucken lässt. „Ja, ich bin viel zu aufgeregt", erkläre ich ihr, auch wenn es nur die halbe Wahrheit ist. Es reicht, dass ich gestern Jule und Lena den halben Abend vollgeheult habe. „Kann ich verstehen. Wollen wir zusammen zum Frühstück?", fragt sie mich und ich stimme ihr zu.

Ich habe ein wenig Angst, in die Mensa zu gehen. Auch wenn mein Fokus heute auf Fußball liegen soll, weiß ich, wie sehr es mich durcheinander bringen wird, sie zu sehen. Außerdem sollte sie nicht sehen, wie rot meine Augen immer noch waren. Lea hatte nichts dazu gesagt und ich war wirklich froh darüber, denn ich war einfach noch nicht bereit, darüber zu reden. Still laufen wir einfach nebeneinander her und betreten den noch ziemlich leeren Raum. Vereinzelt sitzen ein paar Spielerinnen und Trainer an den Tischen und unterhalten sich. Zu meiner Erleichterung war Laura noch nicht da und ich kann wieder ein wenig mehr durchatmen. Ohne es bemerkt zu haben, hatte ich, bis ich jedes Gesicht einmal gemustert habe, die Luft angehalten. „Und was denkst du, wie das Spiel heute wird?", fragt die Bayern-Spielerin mich plötzlich und ich verschluckte mich fast an meinem Brötchen. „Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Heute kann irgendwie alles passieren", antworte ich ihr ehrlich und Lea nickt verstehend. „Ja, es wird auf jeden Fall spannend, aber ich denke, wenn wir heute einfach fokussiert bleiben, werden wir das Spiel für uns entscheiden".

Wir unterhalten uns noch eine Weile über das Spiel, bis sich Lena und Jule zu uns setzen. „Ihr seid ja wieder pünktlich auf die Minute", ärgert die Blondine ihre beste Freundin und wirft einen kurzen Blick auf ihre Uhr am Handgelenk. Mittlerweile waren fast alle beim Frühstück aufgetaucht und füllten den großen Raum. „Ja und du brauchst gar nicht fragen wegen wem", brummt die ältere Wolfsburgerin, während Jule nur grinsend mit den Schultern zuckt. Ich bleibe jedoch still, war mir die Situation von gestern ein wenig unangenehm. Lena und Jule haben mich gestern in einem meiner schwächsten Momente gesehen und ich weiß nicht wirklich, wie ich damit umgehen soll. Mehrere Stunden haben sie mit mir am Bett verbracht und versucht mich auf andere Gedanken zu bringen. Lena hat mir erzählt, dass sie schon ein wenig länger in die Jüngere verknallt war, aber sich erst getraut hat, einen Schritt auf sie zuzumachen, nachdem Sara sie dazu ermutigt hat. Sie hat Jule an einem Abend gefragt, ob sie zusammen essen gehen wollen und ob es für die andere okay wäre, wenn es ein Date ist. Jule hatte ohne auch nur eine Sekunden zu zögern zugesagt. Die Geschichte hatte mich ziemlich gut von meinen Problemen ablenken können und trotzdem war es mir ein wenig unangenehm, in welchen Zustand sie mich zu Gesicht bekommen haben. Lena, die wohl meine Gedanken lesen kann, zwinkert mir nur kurz zu und ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, gestern nicht alleine gewesen zu sein. In dem Moment spüre ich jedoch die Präsenz von jemand anderem im Raum und weiß sofort, um wen es sich dabei handelt. Ich versuche, jeden Muskel in meinem Körper davon abzuhalten, mich umzudrehen und einfach weiter zu Lena zu schauen, die in ein Gespräch mit Lea vertieft war. „Wann haben wir dann Aktivierung?", frage ich einfach in die Runde, um mich selbst ein wenig abzulenken.






Die nächsten Stunden vergehen schneller als gedacht und ich war überrascht, wie gut ich Laura bisher aus dem Weg gehen konnte. Auch wenn es mir verdammt schwer gefallen ist, weiß ich das es das richtige ist. Sie müssen sich jetzt beide auf das Spiel konzentrieren und einfach mal wieder einen freien Kopf bekommen. „Kommst du, wir wollen zum Bus?", höre ich Jule nach mir rufen, während ich noch meine Kopfhörer in meinen Rucksack packe. „Ja geh ruhig schon vor, ich komme gleich", rufe ich ihr zu und schultere meinen Rucksack bevor ich nochmal einen Blick auf mein Handy werfe. >>Deine Eltern wollen heute Abend mit dir sprechen.<< Steht dort unter dem Namen meines besten Freundes und ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen. Auch wenn mir bewusst war, dass meine Eltern das Gespräch so schnell wie möglich führen wollen, hatte ich innerlich doch gehofft, es noch ein wenig nach hinten verschieben zu können. Doch das war jetzt egal. Jetzt muss ich erstmal das tun, was ich am meisten liebe. Fußball spielen und das können sie mir in keiner Weise kaputt machen.

Mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg nach unten, um noch rechtzeitig zum Bus zu kommen und schaue nicht richtig, wo ich hinlaufe. Im nächsten Moment werde ich auch schon ein Stück nach hinten geworfen. Zum Glück umgreift eine Hand noch schnell meine Hüfte und verhindert, dass ich Rücklings auf meinem Hintern lande. Doch dann findet mein Blick ein blaues paar Augen und ich wünsche mir, ich wäre doch lieber auf den Boden gefallen. Kein Wort verlässt meine Lippen, doch auch sie schweigt. Ich blicke ihr einfach in die Augen und suche nach etwas. Doch nach was genau suche ich? Ohne das ich es kontrollieren kann, wandert mein Blick von ihren Augen ein wenig weiter nach unten und schnellt dann ganz schnell wieder nach oben. Fast wäre mir dabei entgangen, wie ihr Blick ebenfalls von meinen Augen abgewichen war. Ich muss schlucken. „Wir sollten gehen", flüstere ich, wenden meinen Blick jedoch nicht von ihren Augen ab. „Ja, das sollten wir", stimmt sie mir zu, bewegt sich jedoch ebenfalls nicht. In dem Moment kann ich nicht mehr an mich halten und greife mit meinen Händen nach ihrem Gesicht. Automatisch schließen sich meine Augen und alles, was ich wahrnehme, ist das Gefühl von sanften Lippen, die auf meine treffen.

Ich vergrabe meine Hand in ihren Haaren, während sie ihre Arme vollkommen um meine Hüfte schlingt. In dem Moment verschwimmt alles um uns herum und es gibt nur noch mich und Laura. Ihre Lippen auf meinen. Ihre Hände auf meiner Haut. Der Geruch von ihrem Lieblingsparfüm. Das Gefühl, als wäre ich endlich wieder komplett.

Luft ringend lösen wir uns wieder voneinander und Laura drückt ihre Stirn gegen meine. „Wir sollten reden. Nach dem Spiel", stellt sie fest und ich kann nicht anders als zu nicken. Noch vollkommen benebelt von dem, was eben passiert ist, merke ich kaum, wie die Frankfurterin mich an der Hand weiterzieht.

Was ist gerade nur passiert? 



2018 // laura freigangWo Geschichten leben. Entdecke jetzt