DNA-Wandler

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Es war noch dunkel draußen, als Alea in Theas Bett erwachte und sich auf Zehenspitzen auf den Weg zum Labor machte. Ein schwaches Licht ging von einer Lampe aus, die auf dem Tisch stand, an dem Nelani saß. Neben ihr lag McDonnahall und sah mit Argusaugen auf das Papier, das sie beschrieb. Als Alea eintrat, hob Nelani den Blick und lächelte Alea zu. „Bist du immer so früh wach?"

„In letzter Zeit schon", gab Alea zurück, schnappte sich einen Hocker aus der Ecke und stellte ihn neben sie. „Was tust du da?" Auf dem Blatt waren unverständliche Formeln, Skizzen und eine Menge durchgestrichene Zeilen abgebildet. „Arbeitest du an dem Gegenmittel?"

McDonnahall rümpfte die Nase. „Das sieht doch jeder Knallkopf, dass das kein Gegenmittel ist. Da und da -" Er zeigte auf zwei ellenlange Formeln, „sieht man's doch eindeutig."

„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir das vor wenigen Minuten selbst erklärt", sagte Nelani mit einem vielsagenden Blick.

„Na ja", brummte der Kobold. „Immerhin habe ich dir meine Aufmerksamkeit geschenkt. Das gebührt nicht jedem!"

„Ganz sicher." Nelani wandte sich Alea zu und verneinte ihre Frage. „Ich rechne gerade die Menge der benötigten Chemikalien aus, die ich für die Duplizierung eines Mittels brauche, das nichts mit dem Virus zu tun hat."

McDonnahall nickte professorengleich.

Alea kratzte sich am Kopf. „Aber brauchst du denn nicht einfach doppelt- oder dreimal soviel wie zuvor?"

„Nein, die Größen sind nicht proportional", antwortete Nelani. „Das ist das Schwierige, man muss erst einen Haufen Nebenrechnungen machen, um auf das Endergebnis zu kommen."

„Aha. Und was für ein Mittel ist das?"

Nelani legte den Stift auf den Tisch und drehte ihren Stuhl in Aleas Richtung. „Ich habe heute Nacht lange überlegt, wie man die Sache mit Orion erledigen könnte. Ist er nicht gerade im Kerker? Das ist auf die Dauer keine gute Lösung."

Alea nickte. „Und du hast etwas herausgefunden?"

„Ich hab dir doch mal ein wenig von den Dingen erzählt, die Orion so in seinem Labor erforscht hat", sagte Nelani. „Dabei habe ich eine Sache besonders erwähnt, die mich zugleich schockiert und fasziniert hat."

„Kurz und knapp: Nelani hat hier Reste vom DNA-Wandler gefunden", ging McDonnahall ihr dazwischen.

Alea sah ihre Mutter mit großen Augen an. „Ja, von dem DNA-Wandler hast du mir erzählt. Aber warum sollten wir ihn Orion verabreichen? Glaubst du, der Herrenschwur wird gebrochen, wenn er kein Meermensch mehr ist?"

„In diese Richtung habe ich gar nicht gedacht." Nelani stand auf und holte etwas aus den vielen Schubladen. Es war ein Reagenzglas und ein Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. „Als ich den Wandler gefunden habe, war er nur für Wanderer einsetzbar. Aber das kann man beliebig änder – mit den richtigen Zutaten."

„Und die rechnest du aus?"

Nelani schüttelte den Kopf. „Das hab ich schon getan. Gerade versuche ich nur das Verhältnis von ihnen herauszufinden, das ich für größere Mengen brauche."

Alea starrte auf das Reagenzglas in Nelanis Hand. „Und damit könnte man sämtliche Roix-Fertigkeiten auslöschen?"

„Stimmt", sagte Nelani.

„Aber wofür?"

Nelani fuhr sich über die Augenbrauen. „Ich möchte das Blatt wenden: Dich hatte Orion deiner Wanderin-Attribute beraubt, um dich durch Lennox vergessen zu lassen – somit konntest du dich an die letzten zwei Monate nicht mehr erinnern und warst keine Gefahr für Orion."

Alea nickte langsam. „Welche Erinnerungen würdest du ihm denn nehmen, dass er keine Gefahr mehr darstellt?"

„Sämtliches Wissen über seine Gretzeraktivitäten, die Alpha Cru, den Herrenschwur, Anthea, die Viren, den Fluch, seinen Ruf in der Meerwelt – alles, was ihn böse macht oder ihn böse handeln lässt."

„Also wäre alles Böse in ihm ausgelöscht", sagte Alea, die so langsam begriff. „Dann gibt es nur noch Gutes in ihm!"

„Nur Gutes bestimmt nicht", relativierte Nelani. „Aber wie Sammy gestern gesagt hat – es reicht schon nichts Schlechtes zu tun, damit Orion keine Gefahr mehr darstellt."

„Ja!" Alea lächelte. „Könnten wir es dann auch so richten, dass er die Befehle an die Darkoner zurücknimmt?"

„Irgendwie bestimmt." Nelani zuckte mit den Schultern, stellte das Reagenzglas wieder zurück in die Schublade und kam zu ihr. „Also, was hältst du von der Idee?"

„Ich finde sie sagenhaft!", rief Alea und umarmte Nelani.

„Schon gut, musst ja nicht gleich so rumbrüllen", motzte McDonnahall sie an. „Die Heiopeis wachen sonst auf." Er verzog sein knautschiges Gesicht. „Na ja, nicht, dass es mich groß interessieren würde..."

Alea schenkte ihm keine weitere Beachtung, denn ihr fiel gerade ein: „Ist das Gegenmittel für den Wasservirus denn schon fertig?"

Nelani holte wieder eine Ampulle aus einer Schublade, in der sich eine milchig-weiße Flüssigkeit befand. „Fertig und einsatzbereit", verkündete sie, woraufhin Alea sie gleich noch einmal umarmte.

„Du bist wirklich unglaublich!", sagte sie. „Wann verteilen du und Keblarr das Gegenmittel?"

„Eigentlich wollten wir heute los, aber dann kamt ihr und ich werde hier gebraucht."

Alea nickte ihr dankbar zu. „Die Magischen könnten für euch das Mittel verteilen", schlug sie vor. „Sie arbeiten ja jetzt zusammen und eine Finde-Finja könnte See-Saffiere in Windeseile zu den Gebieten bringen, wo der Virus am meisten verbreitet ist."

„Im Prinzip schon", stimmte Nelani ihr zu.

„Ist das eigentlich alles?", fragte Alea mit einem Blick auf die Ampulle. „Muss man nicht viel mehr verteilen? Die Ozeane sind riesengroß."

Nelani schüttelte den Kopf. „Sobald das Gegenmittel in den Algen freigesetzt ist, ernährt es sich sozusagen vom Virus. Da dieser an den Stellen besonders konzentriert ist, kann sich das Gegenmittel nach kurzer Zeit vervielfachen und sich in den Meeren verteilen. Ein paar Tropfen pro Extremgebiet reichen eigentlich aus."

„Krass", fiel Alea dazu ein. „Du hast bestimmt irgendetwas Magisches reingemischt, oder?"

„Ohne unbescheiden zu wirken: Ja, mein Gegenmittel übertrifft das von Orion um Längen."

Alea sprang auf. „Wir können es gleich Siska verabreichen!"

„Für die Meerkinder hab ich etwas anderes." Nelani öffnete abermals eine der Schubladen und holte eine Ampulle heraus, deren Inhalt genauso aussah, aber anders beschriftet war. „Dieses Gegenmittel ist für das Injizieren von Menschen gedacht, das andere für die Ozeane."

Alea nahm ehrfürchtig die Ampulle entgegen. Sie war seltsam leicht, als würde sich darin bloß Luft befinden. „Wir müssen hier irgendwo ein Treffen mit den Meerkindern abhalten und ihnen allen das Gegenmittel verabreichen!"

„Ein Treffen auf Island ist wohl eher ungeschickt", sagte Nelani, „aber sobald ihr wieder eines veranstaltet, werde ich dabei sein."

„Na, ich dann wohl auch", meldete sich McDonnahall wieder. „Wenn ihr fertig geschwätzt habt, könnt ihr dann endlich mal das Frühstück auftragen? Ich hab seid gestern Abend nix mehr gegessen."

„Wenn du doch eh nie was Besonderes vorhast", meinte Alea freundlich, „dann könntest du doch auch diese Aufgabe erledigen, findest du nicht auch?"

Der Kobold glotzte sie verdutzt an, dann richtete er sich auf und streckte das Kinn nach vorne. „Natürlich hab ich was Besseres zu tun", berichtigte er sie. „Ich muss die anderen wecken, damit sie auch mitfuttern können."

Im nächsten Moment kletterte er vom Tisch und verschwand durch die Tür.


Mein Alea Aquarius 9Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt