Theas Reich

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Was Alea als allererstes ins Auge sprang, als sie Theas Zimmer betrat, war die Ordnung. Das Bett in der hinteren Ecke war gemacht, die Decken sorgfältig zusammengelegt. Neben ihm das Nachttischchen mit einer Lampe und drei perfekt aufeinandergestapelte Bücher. In dem großen Schrank links von Alea waren ebenfalls fast nur Bücher, alle sortiert und kein einziges herausstehend. Auf dem Boden war ein roter Teppich mit verschiedenen Mustern und darauf stand ein Schreibtisch, auf dem ein Behälter für Stifte war und Schreibblocks, nummeriert mit den vergangenen Jahreszahlen.

Alea traute sich mit ihren Boots fast gar nicht, den makellosen Boden zu betreten, darum zog sie sie schnell aus und stellte sie neben die Tür. Thea kam ihr gar nicht wie so ein ordentliches Mädchen vor, das täglich ihr Zimmer aufräumte. Oder hatte man irgendwann einfach nichts mehr zu tun, wenn man eingesperrt war und nirgends hin konnte?

Der Titel des oberen Buches auf dem Nachttisch lautete natürlich Die Loreley – eine Lüge oder steckt mehr dahinter?, und Alea fuhr mit ihren Fingern über den Buchrand. Ein bisschen Staub hatte sich in der Zeit angesetzt, in der Thea fort gewesen war und Alea malte eher schlecht als recht eine Nixe unter die Überschrift hinein.

Alea sah aus dem kleinen Fenster über dem Bett, das mindestens zwanzig Meter über dem Boden war, und aus dem es vermutlich unmöglich war zu entkommen. Leider sah sie nicht auf den Strand und das Meer, sondern auf Wiese und Straßen. Wie oft hatte Thea hier gestanden und hinausgesehen, wenn Orion und Jinx sie mal wieder eingesperrt hatten?

Alea verharrte einen Moment dort, dann widmete sie sich den Büchern im Regal. Sie fand vier weitere, die ebenfalls von der Loreley handelten, und andere, in denen eine andere Sage verborgen war. Alea kannte jedoch keine von ihnen.

Als sie einen Block öffnete, der unter vielen anderen auf dem Schreibtisch lag, war sie erst überrascht, dass Theas Schrift gänzlich anders war als ihre. Alea hatte erwartet, dass sie sich ähnelten. Immerhin waren sie eineiige Zwillinge, aber wahrscheinlich glichen sie sich abgesehen vom Aussehen nur wenig.

Und vom Style, dachte Alea, als sie die ganzen coolen Sachen in Theas Kleiderschrank betrachtete. So ähnlich sah ihrer auf der Crucis auch aus, so unordentlich und vollgestopft, dass Alea lächeln musste. Das hier war alles Thea. Sie hatte sehr viel Zeit in ihrem Zimmer verbracht, was sich so langsam abgefärbt hatte. Hier hatten sich ihr das erste Mal Zweifel gegenüber ihrer scheinbaren Väter gebildet. Dieses Zimmer war Theas Heiligtum in der Villa Konungur gewesen mit all den Büchern. Ihre Höhle, ihr Unterschlupf, wenn sie allein sein wollte.

Alea seufzte. Das Zimmer war zwar weitaus größer als ihres bei Marianne, aber es hatte längst nicht den ganzen Prunk der Villa Konungur. Die Einrichtungsgegenstände sahen sogar gar nicht mal so neu aus, vielmehr altmodisch.

Als Alea sich vorstellte, wie es hier wohl gewesen sein mochte, hörte sie Schritte.

Lennox stand im Türrahmen und sah sich um. „Schön hier", sagte er.

Alea nickte. „Hier hat Thea die letzten elf Jahre verbracht."

„Ja." Lennox schwieg eine Weile lang und musterte Alea. „Wir haben gleich eine Besprechung mit Nelani und Keblarr."

„Ist mein Vater zurück?" Nelani hatte ihnen vorhin erzählt, dass er einkaufen war wegen irgendwelcher Extrawünsche von McDonnahall. Und da die Wachen in der Villa immer weniger wurden, war das kein Problem gewesen.

„Keblarr ist gerade angekommen. Er ist zusammen mit Nelani bei den anderen."

„Ich komme", sagte Alea, zog sich ihre Boots wieder an und folgte Lennox zum Labor.

Die Alpha Cru saß an einen Schrank angelehnt auf dem Boden und Nelani stand hinter dem Tisch, wo sie gearbeitet hatte. Alea setzte sich neben Thea, die von einem Ohr zum anderen strahlte, und Lennox nahm neben ihr Platz. Da kam Keblarr mit zwei vollen Taschen herein, auf seiner Schulter ein motzender McDonnahall. Er regte sich wohl darüber auf, dass es zu sehr wackelte dort oben.

Keblarr schenkte Alea ein langes Lächeln, das diese erwiderte. Aber sie hatten zu viel zu bereden, als dass sie noch große Begrüßungen hätten aussprechen wollen, sie hatten sich schließlich per Videoanruf regelmäßig gesehen.

In Alea hatten sich eine Menge Fragen aufgestaut in den letzten Stunden, aber ihre erste war nun: „Wo ist Cassaras?" Sie hatte den Prinzen nicht mehr gesehen, seit sie angekommen waren.

„Er ist ins Meer gegangen", antwortete Lennox und gebärdete gleichzeitig. „Er findet diese Wendung bestimmt schrecklich."

Alea fragte sich, ob Lennox das fehlgescheiterte Emotionstribunal meinte, aber bevor sie nachhaken konnte, sagte Nelani: „Jetzt erzählt doch mal von Anfang an. Was hat Orion denn bitte so umgehauen? Und wie konntet ihr innerhalb von ein paar Tagen nach Island segeln?" Ihr Blick wanderte zu Lennox. „Dir ging es wohl ziemlich übel, hat mir Alea erzählt. Aber jetzt ist alles gut? Und wie -"

Alea verstand die letzte Frage gar nicht mehr. Ihr fiel gerade wieder ein, was die letzten Ereignisse erfolgreich verdrängt hatten: Muras Fluch! Der Fluch auf Lennox, der plötzlich wieder geheilt wurde durch... Cassaras? Wie hatte Cassaras den Fluch zurücknehmen können, wenn nur Mura dazu imstande gewesen wäre? Warum hatte er dasselbe Mal auf dem Handgelenk wie sie?

Sammy räusperte sich und begann nun von Anfang an Nelani und Keblarr brühwarm zu schildern, was seit dem Konzert passiert war. Wie sie von den Darkoner geflüchtet waren, wie sie bei Lennox den Fluch festgestellt hatten. Er erzählte von dem Anruf bei Tess' Mutter und von dem Meeting, das sie bald wieder mit den Meerkindern abhalten wollten, jetzt wohl aber verschoben werden musste. Zuletzt kam er zu dem Emotionstribunal und wie sie Orion bei Grarmathacht hatten richten wollen, es aber nicht funktioniert hatte und sie darum hier waren. Er wusste wohl nicht, dass Nelani und Keblarr schon einiges durch Aleas Erzählungen erfahren hatten, aber Alea unterbrach ihn auch nicht. Am Ende jedoch fragte sie Lennox: „Wie konntet ihr den Fluch denn heilen?" Ben nickte, als wollte er das auch zu gern wissen. „Cassaras hat mir gesagt, dass nur die Nixe, die den Fluch ausgesprochen hat, ihn wieder entfernen kann. Aber Cassaras hat dich gar nicht verflucht!"

Lennox seufzte. „Wisst ihr, nachdem wir zur Crucis zurückgekehrt waren, haben wir uns unterhalten. Ich habe ihm von dem Fluch erzählt und ihn gefragt, ob er irgendetwas dazu wüsste, wie man ihn heilen könnte." Das wusste Alea alles schon. „Cassaras war total schockiert, nachdem er das Mal gesehen hatte. Da zeigte er mir sein eigenes, bei seinem Handgelenk."

„Aber wieso hatte er es dort?", fragte Alea.

„Cassaras war sich auch nicht so sicher", sagte Lennox. „Er glaubt, den Fluch irgendwie in sich aufgenommen zu haben, als er Mura getötet hatte. Kurz davor hatte sie ja einen Fluch aussprechen wollen, die Magie war gerade also frei und suchte einen neuen Träger, als Mura starb."

Sammy nickte, als ergäbe das für ihn vollkommen Sinn. „Er ist aber nicht so fies geworden wie Mura, oder? Wenn man einen Fluch ausspricht, dann bedeutet das doch, dass man für immer eine geschwärzte Seele haben wird."

„Das schien jedenfalls nicht der Fall gewesen zu sein." Lennox zuckte mit den Schultern.

Alea hatte schon weitergedacht. Wenn Cassaras nun wirklich der Träger des Fluches gewesen war, dann hatte er ihn brechen müssen. Er hatte ihr erzählt, dass man Flüche immer mit Liebe brach anstelle von Hass.

In ihrem Kopf arbeitete es. Lennox wollte, dass Thea ganz überraschend aufkreuzte, wenn Cassaras und er in der Nähe waren. Warum? Ihr Gehirn spuckte ihr sogleich eine Antwort aus. Weil Thea das größte Liebenswerte war in Cassaras' Leben. Durch sie hatte er die nötige „Zutat" erhalten, um den Fluch zu brechen.

Das musste Lennox erkannt haben! Und deshalb konnte er geheilt werden – weil Thea im perfekten Moment gekommen war.

Mein Alea Aquarius 9Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt