Kapitel 1 - Wolfsblut

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Kapitel 1 - Wolfsblut

Letztes Jahr ist meine ganze Welt zusammengebrochen.

Und jetzt habe ich Angst. Aber das ist Okay. Ich bin gewillt meine Vergangenheit hinter mir zu lassen.

Mein Name ist Lucy Morgan. 

Ab heute wird alles anders.

Es gibt bestimmt einige die das vermutlich kennen: Man lebt sein Alltägliches leben, unbeschwert, normal, und plötzlich passiert etwas, das einen bis ins Knochenmark erschüttert. Man sieht oder hört etwas und auf einmal ist alles, woran man je geglaubt hat, in Sekunden zerstört. Auf einmal zersplittert, das was du bist, das wer du bist, in tausend scharfkantige Splitter bitterer Erkenntnis.
Genau so, wie wenn ich den Spiegel vor dem ich stehe, einfach umwerfen würde.
Es heißt Zeit heilt alle Wunden.
Aber wie könnte meine Welt je wieder die Unbeschwerte werden, an die ich noch bis vor einem Jahr zu glauben gewagt hatte.
Wie könnten jemals die Narben die sich über meinen ganzen Körper zogen, auf meinem linken Schlüsselbein, am Arm und meinem rechten Oberschenkel je wieder zu der glatten Haut werden, die sie einmal war?
Ich bin ein zersprungener und wieder zusammengeklebter Spiegel, dem auch nach der versuchten Reparatur einige kleine Splitter fehlten.
Ich würde nie wieder die Alte sein und meine Welt würde das auch nie wieder sein.                                

Aber ich habe mir geschworen, das beste aus dieser mir noch fremdem Welt zu machen.

Vor einiger Zeit sagte ich einen Satz zu mir, der mir heute als sehr wichtig erschien:

Ich war am leben und das zählte oder?

Langsam hob ich die Hand zu meinem Spiegelbild und ertastete die kühle, glatte Oberfläche, bevor ich sie sanft auf mein linkes Schlüsselbein legte und somit die Narbe verdeckte, die sich rau und uneben von meiner Schulter abhob.

Ich würde für immer gezeichnet sein.

Mir wurde merkwürdig warm und meine Hände fingen an zu Kribbeln, wie immer, wenn ich daran dachte oder meine Narbe berührte.
Das Kribbeln erreichte einen schmerzlichen Punkt und nun begannen meine Hände sich auch zu verfärben. Früher war es nie so schlimm, doch seit ein paar Wochen verfolgte es mich immer öfters.

Kurz nach dem schicksalhaften Angriff von Lars ist es zum ersten Mal aufgetaucht. Vielleicht war es eine hinterbliebene Folge von dem Angriff? Vermutlich sollte ich deshalb zu einem Arzt gehen. Aber wahrscheinlich war es irgendwas psychisches. Zumindest tauchte es immer nur dann auf, wenn ich daran dachte oder meine Narben selbst berührte.

Kaum zu glauben, dass der Angriff seit heute ein Jahr her war. Aber dafür war es der perfekte Tag, um all das hinter mir zu lassen. Ein Neuanfang. Genau das war es, was ich wollte. Ich hatte es verdient, nach diesem schweren Jahr. Ich bin nicht mehr die gleiche wehrlose und unwissende Person wie damals.

Also zwang ich mich, meinen Blick von den Narben abzuwenden, die meinen Körper verunstalteten, und zog mich an, während mein Blick auf ein Bild über meinem schlichten Holzbett fiel.

Es zeigte meine Eltern mit mir. Noch mehr Erinnerungen, aber an glücklichere Zeiten.
Zeiten, als meine Welt noch nicht von dem getrübt wurde, was heute auf meinen Schultern lastete.
Damals war ich gerade mal sieben Jahre alt und so glücklich.
Meine Augen leuchteten so strahlend grün auf dem Bild und meine braunen Locken fielen mir wild ins Gesicht. Mein Lächeln bei diesem Anblick erstarrte sogleich. Denn diese Erinnerung hing auch mit dem Tod von Bill zusammen. Es war kurz davor gemacht worden und es wird auch eines der letzten Bilder sein, auf denen ich so unbeschwert lachen würde, aber ich war ja sowieso schon wieder viel zu pessimistisch. Optimismus würde dir echt mal guttun, Lucy. 

Wolfsblut (I) | WerwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt