3. Flucht

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Ich blieb so lange in dem Bett liegen, bis die Kirchenglocken elf Uhr schlugen. Ich hatte mir extra meinen Schlafmantel übergezogen, damit nicht auffiel, dass ich noch dasselbe Kleid von heute Mittag trug und nicht meine Schlafrobe.
Draußen war es nun stockdunkel und das Schloss so ruhig, dass mittlerweile alle schlafen mussten.
Als auch die letzten Glocken verklungen, stand ich auf. In der einen Hand ein Kerzenständer und mit der anderen öffnete ich so leise wie möglich die Zimmertür. Den Schlüssel für die Vorratskammer ließ ich zunächst lieber in der Tasche meines Schlafmantels. Wer weiß, wofür es gut war.

Auf Zehenspitzen bewegte ich mich langsam den Flur entlang. Bedacht darauf nicht in meinen Socken auszurutschen. Überall hingen Porträts an den Wänden, gesäumt von weiteren Kerzenständern. Auf dem Boden war ein langer Teppich ausgerollt in grün, welche Farbe auch sonst.
Nur noch ein Stück, die Treppe war bereits sichtbar.
„Was hält sie zu so später Stunde auf den Beinen?"
Ich zuckte zusammen, bevor ich mich schnell zu der Stimme wandte.

Es war Gregor, Olivers Onkel, welcher bereits gestern mit seiner Familie für die Trauung angereist war. Durch seine dicken Augenbrauen musterte er mich skeptisch. Schnell zog ich den Mantel enger, hoffentlich bemerkte er das Kleid darunter nicht. Mein Herz raste, fieberhaft suchte ich nach einer Antwort.

„Ach wissen Sie, ich bin so nervös wegen der Trauung morgen. Ich kann kein Auge zutun. Eine warme Milch mit Honig aus der Küche würde mir sicher beim Einschlafen helfen." Noch immer schien er wenig überzeugt. „Was wäre der Tag denn nur mit einer müden Braut, sollte es nicht der beste Augenblick ihres Lebens sein?" Ich zwang mich zu einem unschuldigen Lächeln, wie es meine Cousinen immer taten, wenn sie Männer beeindrucken wollten. Zu meiner Überraschung schien es tatsächlich zu wirken.

Gregor sagte nichts weiter, er quittierte meine Aussage mit einem knappen Nicken, bevor er in einen Raum verschwand. Einen Moment lang blieb ich stehen, unfähig mich zu bewegen. Als sich mein Atem beruhigte und mir nicht mehr heiß war, lief ich die Treppe hinunter. Das war knapp.

Ich lief an einigen Räumen vorbei, dem Arbeitszimmer, Damenzimmer und Speisesaal, bis ich schließlich durch die Küche in einen separaten Flur kam. Im schwachen Kerzenlicht konnte ich erkennen wie schmal er war, von der Türschwelle aus konnte ich mit meinem ausgestreckten Arm die Tür zur Vorratskammer berühren.

Vorsichtig griff ich nach dem Schlüssel in meiner Tasche. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Erleichtert atmete ich aus. Ein Schwall von unzähligen Düften schwebte herüber, Gewürze, Fleisch, Fisch und Gemüse. Doch mir blieb keine Zeit, je länger ich umher schlich, um so größer wurde die Gefahr erneut erwischt zu werden. Im flackernden Kerzenlicht konnte ich unweit entfernt den Beutel erkennen. Als ich den festen Stoff hochhob, stellte ich bei dem schweren Gewicht fest, dass der Beutel genauso prall gefüllt sein musste, wie er aussah.

Ich zog rasch meinen Mantel aus und legte ihn dorthin wo eben noch der Beutel lag. Von nun an konnte ich ihn nicht mehr brauchen. In der Stadt würde der fein gewobene Stoff mich nur verraten, erst recht mit dem bestickten Wappen von Andell auf der Innenseite des Kragens.

Wieder im Flur fand ich die Kleiderhaken direkt neben der Außentür. Mein Blick blieb an dem Umhang hängen, welcher über dem einzigen Paar Stiefel hing. Das restliche Schuhwerk der Bediensteten stand aufgereiht in einem Regal gegenüber.

Den Beutel legte ich zur Seite, während ich in die Stiefel schlüpfte und den Umhang anzog. Zu meiner Überraschung passte alles ziemlich genau. Mir war nie bewusst gewesen, dass Edith und ich die gleiche Größe besaßen.

Ich stellte den Kerzenständer aus meinem Zimmer ab, warf mir den Beutel über, öffnete die Tür und legte den Schlüssel wie abgemacht draußen in einen der Blumentöpfe, noch bevor ich meine Flucht überdenken konnte.
Ich nahm eine Fackel von der Steinmauer und watete durch das feuchte Gras.

Mein Weg führte mich zu dem Bedienstetenausgang. Ein kleines hölzernes Tor in der sonst scheinbar unüberwindbaren Steinmauer. Edith hatte wirklich an alles gedacht, es war nicht abgeschlossen.

Ohne mich auch nur ein Mal umzudrehen, ging ich durch das Tor, wandte mich ab von meinem Schicksal.
Die Tannen wirkten wieder freundlich. Sie bewegten sich sachte im Wind, als würden sie mir den Weg weisen.

Voller Energie folgte ich ihnen und entfernte mich immer mehr von dem Schloss. Ich atmete die frische Luft ein, sie roch leicht moosig und voller Leben. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit.
Der Boden war tatsächlich von Moos besetzt. Zwischendurch meinte ich auch Pilze zu erkennen und kleine Blumen. In der Ferne lag ein umgefallener Baumstumpf.
Der Ruf einer Eule durchbrach die sonst so stille Nacht.

Ich wusste nicht, wie lang ich unterwegs war, als mich die Müdigkeit überkam. An einem großen Baum abseits vom Wegesrand machte ich halt.
Meine Füße schmerzten bereits, doch ich konnte genug Kraft aufwenden, um kleine Äste und Steine unweit von mir zu finden.

Das Holz legte ich auf einen Haufen und verteilte die Steine in einem Kreis darum. Es ermöglichte mir mit dem Rest der Fackel ein kontrolliertes Feuer zu starten. Erschöpft lehnte ich mich an den Baumstamm und zog meinen Umhang trotz des wärmenden Feuers enger an mich ran.

Ein erleichtertes Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit, ich hatte es tatsächlich aus dem Schloss geschafft.
Morgen würde ich meine Reise in die Freiheit fortsetzen.

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