11. Karte

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Das mulmige Gefühl kam zurück. Gerade als ich dachte, die Stimmung zwischen uns könnte sich aufhellen, wurde sie nur noch dunkler. Erwartungsvoll schaute Jody mich an.
„Ich heiße Bella." War es überhaupt eine Lüge, wenn ich ihr meinen Zweitnamen nannte?
Ich gab mir Mühe so ehrlich zu klingen wie nur möglich, es schien zu funktionieren.

„Aha. Und woher kommst du, Bella?" Noch immer blickte sie mich mit ihren grauen Augen intensiv an.
Ich zögerte einen Moment, fieberhaft dachte ich nach. Erneut wandte ich meinen Blick ab.
„Und sag nicht von Tikum." Sie streckte ihre Hand aus und fuhr durch meine Haare. „Solch blonden Haare hat hier nämlich niemand."

Ehe ich begriff was sie tat, zog sie ihre Hand bereits weg. Überrascht blickte ich wieder zu ihr. Auch in ihren Augen stand ein Ausdruck der Überraschung, als wüsste sie selbst nicht so recht, was sie da tat. Jody räusperte sich. „Und." Ich begriff erst nicht, was sie von mir wollte. „Ich warte auf eine Antwort." Abwartend verschränkte sie ihre Arme.

Ich blinzelte, bevor ich wieder in der Realität ankam. Noch immer verwirrt von der Situation. Ich sprach das Erstbeste aus, was mir einfiel. „Aus dem Süden."
Sie wirkte nicht verwundert. Jody nickte nur. „Was machst du dann im Norden?"

Wie sie mich immer weiter ausfragte, machte mich ganz nervös und dann kam noch ihr intensiver Blick dazu. Ich war völlig überfordert. „Arbeit suchen."
Jodys Augenbrauen schossen nach oben. Ich schluckte schwer. „Hier soll man besser bezahlt werden."

Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, jedoch keines der freundlichen Art, sondern eher ein missbilligendes. „Dann bist du in Tikum falsch."
„Echt?" Meine Neugierde war geweckt. „Tikum ist doch das reichste Königtum in ganz Calandrien."
Sie schüttelte belustigt den Kopf und schaute gedankenverloren in die Ferne. „Das ist es schon lange nicht mehr."

Ich wollte gerade nachfragen, was sie das denken lässt, doch Fußtritte unterbrachen unser Gespräch.
„Was macht die Gefangene hier?" Es war der Pirat mit den Goldzähnen, der mir schon am Marktplatz aufgefallen war.
„Wir hatten nur ein kurzes Gespräch."
Der Pirat entblößte seine goldglänzenden Zähne bei Jodys Worten. Ein kehliges Lachen kam aus ihm raus. „Dann bring ich das Püppchen mal wieder zu ihrer Zelle, bevor sie noch ihr Unwesen treibt."

Im Augenwinkel sah ich noch Jodys Nicken, da packte mich der Pirat bereits am Arm und zog mich mit sich.
In großen Schritten liefen wir die Treppe hinunter, an den Hängematten vorbei zurück zur Zelle. Er schubste mich regelrecht hinein und schloss die Tür hinter mir wieder ab.
Er war bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden, doch sein Kichern drang immer noch zu mir.

Zu gern hätte ich gewusst, was Jody über Tikum dachte. Generell fragte ich mich viel zu oft, was in ihrem Kopf vorging. Sie war so schwer zu lesen, so unberechenbar...so interessant.
Verwirrt schüttelte ich die Gedanken weg. Jody war immer noch ein Pirat und ich ihre Gefangene.

Ich legte mich auf den Boden und deckte mich wieder mit meinem Umhang zu. Trotz der aufwühlenden Gefühle überkam mich irgendwann der Schlaf.

Erst als ich hektische Schritte hörte, wurde ich wach. Zuerst dachte ich, es würde heftig schwanken, weil ich noch im Halbschlaf war, doch auch nach mehrmaligem Blinzeln wurde es nicht weniger. Vorsichtig stand ich auf, beinahe wäre ich jedoch auf dem Boden gelandet. Ich brauchte einen Moment, um mich an den Wellengang zu gewöhnen.

Es dauerte nicht lang, da stand bereits ein Pirat vor der Tür und schloss sie auf. „Püppchen du sollst mitkommen." Ohne Widerworte ging ich ihm nach. Unser Weg führte nach draußen ans Deck. Der Wind heulte über das Schiff, einige Seile schlugen im Wind, die Segel flatterten. Überall liefen Piraten und holten die Segel ein.

Der Pirat zerrte mich mit sich, bis wir vor Seilen stehenblieben. „Hol das Seil ein." Genau verstand ich nicht, was er meinte, doch links und rechts von mir waren einige andere Piraten die kräftig an den Seilen zogen. Ich machte es ihnen nach. Zumindest versuchte ich es, doch die Kraft des Windes war zu stark. Hinzu kam noch das ich kaum etwas sah, meine Haare wurden andauernd in mein Gesicht geweht.

Dann ging alles ganz schnell. Ich sah wie jemand Zweites nach dem Seil griff und kräftig daran zog. Der Pirat beugte sich vor und band das Seil schließlich fest, damit es sich nicht erneut löste. Er hatte dunkle fast schon schwarze Kinnlange Haare. Erst zu spät bemerkte ich, dass dieser Jemand Jody war. Sie eilte genauso schnell davon, wie sie gekommen war.

In wenigen, eleganten Schritten sprang sie auf einen der Masten und half den anderen Piraten die höher liegenden Segel einzurollen und festzumachen. Mir war bis jetzt gar nicht aufgefallen, wie riesig das Schiff wirklich war. Ich empfand es nie als klein, aber jetzt nahm ich erstmals die volle Größe wahr. Drei riesige Masten voll besetzt mit Segeln so weit das Auge reichte.

Jeder hatte etwas zu tun. Auch ich wurde schnell wieder eingesetzt ein weiteres Segel einzuholen.
Doch bald schon war alles gesichert, was durch den Sturm kaputt gehen könnte. Als wäre nichts passiert versammelten sich alle im Inneren des Schiffs.
„Mitkommen." Jody tauchte plötzlich vor mir auf und wies mich Richtung Küche.
Die Geräuschkulisse wurde deutlich gedämpft als wir den Raum betraten.

„Danke für deine Hilfe vorhin, ohne dich hätte ich es nicht..."
„Füll die Krüge auf. Wenn die Jungs nichts zu trinken bekommen, kippt die Stimmung gleich."
Perplex starrte ich sie an. Wieso wirkte sie wieder so distanziert? Hatte ich heute Nacht wirklich mit derselben Jody gesprochen?
In ihrem Gesicht machte sich der gleiche ernste Ausdruck breit, wie vor ein paar Tagen.

Ich fing schweigend an Bier aus den Fässern zu zapfen. Jody verschwand wieder durch die Tür. Ich blickte ihr nachdenklich hinterher. Was war los? Ich konnte mir schwer vorstellen, dass es nur an dem Sturm lag.
Nachdem ich ein ganzes Tablett voll mit Bierkrügen hatte, machte ich mich auf den Weg zu den Piraten.

Doch auf halber Strecke überhörte ich ein Gespräch. Die Tür zu dem Raum war einen Spalt breit geöffnet. „Es ist zu bewacht, so kommen wir nie durch."
Ich blieb stehen. Es war Jodys Stimme. „Was für ein Schwachsinn. Diese Idioten schauen doch eh nur den ganzen Tag in den Spiegel, um ihr Krönchen zu richten."  Ein anderer Pirat muss mit ihr in dem Raum sein.

Jody trat in mein Sichtfeld. Noch immer plagte sie der ernste Gesichtsausdruck. Sie rieb sich die Augen und atmete angestrengt die Luft aus. Als sie ihre Augen wieder öffnete, hatten wir direkten Blickkontakt. Erschrocken wich ich ein Stück nach hinten.

„Hey, was machst du hier." Kaum hatte ich ein wenig Distanz geschaffen, stieß sie wutentbrannt die Tür auf. Ihre Hand landete geräuschvoll auf dem Holz.
Denk nach, denk nach. „Bier. Ich habe Bier für euch."
Sie zeigte keine Reaktion, stattdessen wanderte ihr Blick zwischen meinen Augen hin und her.

„Ich will mein Bier."
Eine dritte Stimme kam aus dem Raum. Sehen konnte ich jedoch niemanden, da Jody mir die Sicht komplett versperrte. Erneut atmete sie geräuschvoll Luft aus, als sie mir endlich den Weg freimachte.
Der Raum war klein, lediglich ein großer Tisch war mittig zu sehen, drumherum standen Bänke, auf denen drei weitere Piraten saßen. Gierig nahmen sie sich das Bier von meinem Tablett.

Dabei schwappte ein wenig der goldgelben Flüssigkeit über, auf die Karte, welche ausgebreitet auf dem Tisch lag. Aus Reflex wollte ich es mit meinem Rock wegwischen, als mir etwas auffiel.
Erst glaubte ich, meine Augen würden mir einen Streich spielen, doch auch beim zweiten Hinschauen blieb es gleich.
Die Karte war der Grundriss von Schloss Andell, meinem Zuhause.

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