19. Landgang

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In den kommenden Tagen schwand meine Hoffnung Stück für Stück. Zu Essen bekam ich kaum etwas, wenn ich Glück hatte, schob mir Jody eine Scheibe Brot zu.

Ich weiß nicht wann ich das letzte Mal das Tageslicht sah und die frische Meeresluft roch. Aus der Zelle raus durfte ich nicht mehr, dies hinderte die Piraten jedoch nicht daran mir Arbeit zu verschaffen. Oft musste ich das dreckige Geschirr spülen, oder die Klamotten der Piraten waschen. Auch wenn beides nicht gerade spannend klang, brachte es Abwechslung in meinen Tag.

Ich tat alles was sie mir sagten, ohne mich zu beschweren, die Angst war zu groß von Bord geschmissen zu werden. Einigen hier traute ich es ohne Zweifel zu. Die boshaften Blicke und das gelegentliche Drohen der Piraten stand auf meiner Tagesordnung. Sie erinnerten mich ständig daran, welch eine Verräterin ich sei.

Doch Jody verhielt sich anders. Ich weiß nicht genau wieso, doch sie würdigte mich keines Blickes, wenn sie an meiner Zelle vorbeilief. Sie sprach nicht mal ein Wort mit mir, wenn sie das Essen brachte. Ihre steinerne Mimik verschaffte mir auch keinen Einblick, was in ihr vorging.

Nach einer weiteren Woche auf hoher See, hatte ich mich allmählich an mein neues Leben gewöhnt.
Doch als ich von dumpfen Schritten und leisen Rufen wach wurde, spannte sich mein Körper umgehend an. Die Geräusche kamen eindeutig von draußen. Ich näherte mich den Gitterstäben, mit Bedacht einem Piraten zu begegnen. Doch zu meiner Verwunderung war nirgendwo einer zu sehen. Sie mussten alle oben an Deck sein. Die Rufe wurden ebenfalls lauter, man konnte deutlich Pfeifen und Jubeln heraushören. Was war hier nur los?

Ich lauschte weiter. Ein dumpfer Knall war zu hören, irgendwas war auf Stein gefallen. Die Planke wurde ausgefahren, es konnte nichts anderes gewesen sein. Also waren wir wieder am Festland angekommen. Aber wieso wurde das Schiff mit solch einem Zuruf empfangen?
Ich versuchte noch weitere Minuten herauszuhören, was da oben vor sich ging, doch die aufgeregte Stimmung ebbte allmählich ab.

Gerade noch rechtzeitig kam ich von den Gitterstäben weg, als ein Pirat die Treppe herunterkam. Ich machte mich auf eine weitere Drohung gefasst, doch es war Jody. Sie schloss die Tür auf, stellte mir jedoch kein Essen hinein. „Mitkommen." Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig hörte? Ich durfte aus meiner Zelle raus? „Zieh dir das über." Sie warf mir einen dünnen Mantel entgegen, meinen Mantel. Nachdem meine wahre Identität ans Licht kam, hatte mir Jody meinen Rucksack mitsamt Mantel entnommen.

Ungläubig starrte ich auf das Stück Stoff. „Mach schon." Ungeduld, schwang in Jodys Stimme. Eine Gefühlsregung, die sie nur selten zeigte. Ich griff nach dem Mantel und zog ihn mir über. Er saß um einiges lockerer, als ich es in Erinnerung hatte.

Vorsichtig stand ich auf und lief in Richtung der Tür. Ich fühlte mich schwach auf den Beinen, wollte es in Jodys Gegenwart allerdings nicht zeigen, weshalb ich mich zwang zügig zu laufen. Jody mied meinen Blick, als ich sie ansah.

„Nach oben. Wag es nicht abzuhauen." Es klang dieses Mal weniger wie eine Drohung und mehr wie eine Erinnerung. Auf wackeligen Füßen lief ich die hölzerne Treppe ans Deck. Ich musste umgehend mein Gesicht mit der Hand abschirmen, es war strahlend hell draußen, doch ich konnte keinen Piraten an Bord sehen. Während sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten, atmete ich die frische Meeresluft ein. Es roch leicht nach Fisch und Gewürzen, jedoch nicht unangenehm.

Ich nahm meine Hand wieder weg, wodurch mir die Sicht auf einen kleinen Fischerhafen bot. Es war wenig los, ein paar Menschen transportierten Fisch in Fässern, andere bedienten kleine Stände mit Lebensmitteln. Zwei Kinder rannten über einen steinernen Boden mit Modellschiffen aus Holz in der Hand.

Mir kamen die Tränen, eine Sicht wie diese hielt ich früher für selbstverständlich. Vor nicht mal einer Woche wäre ich beinahe wieder an meine Eltern ausgeliefert worden, eingesperrt in die vier Wände eines Schlosses.
Der Stoff meiner Kapuze viel mir plötzlich in das Gesicht.
„Geh weiter."
Schlagartig wurde ich wieder in die Realität gebracht.
„Halt deinen Blick gesenkt, rede nicht und folge mir."
Ich nickte zur Bestätigung und lief neben Jody her, als wir das Schiff verließen.

Ich hielt meinen Blick gesenkt, so wie Jody mir befohlen hatte. Wir liefen eine lange Zeit den steinernen Weg entlang, mehrmals wurde Jody gegrüßt. Eine kleine Gruppe spielender Kinder befand sich unmittelbar vor uns.
Erstaunt sog ein Mädchen die Luft ein. „Der goldene Schatten ist zurück." Die anderen Kinder sogen ebenfalls die Luft ein und machten uns Platz.

Goldener Schatten? Ist damit etwa Jody gemeint? Sie schien definitiv auch hier und nicht nur auf dem Schiff eine hohe Stellung zu haben. Wo sind wir nur? Ich glaube nicht, dass ich diesen Kosenamen in Tikum gehört hatte. 

Meer aus LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt