10. Nacht

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Auch wenn das Brot sehr hart war und kaum gesalzen aß ich es innerhalb weniger Minuten auf. Allmählich fand ich mich damit ab nichts besseres zu bekommen. In meinem Leben hatte ich bereits so vieles gegessen, was sich die Mehrheit nicht mal leisten konnte, da tat mir ein Realitätscheck ganz gut.

Der Abend verlief ähnlich zu dem gestrigen. Die Piraten hielten sich lange draußen auf und gingen erst ins Bett als jeder mehrere Liter Bier getrunken hatte, nüchtern war jetzt keiner mehr.
Stille machte sich breit, lediglich das Schnarchen der Piraten und das Quietschen der Laternen war zu hören.

Die körperlich anstrengende Arbeit machte mich ganz müde. Ich legte mich wieder auf den kalten Boden und schloss meine Augen. Ich blendete bereits die vertrauten Geräusche aus, als plötzlich ein leises Klappern hinzukam. Irritiert setzte ich mich wieder auf. Wo kam das her?

Erneut hörte ich es. Es klang als würde etwas gegen Metall schlagen. Suchend blickte ich aus der Zelle, als mir die Zelltür auffiel. Sie war nicht abgeschlossen, stattdessen schlug die Tür gegen den Rahmen. Mein Herz raste ganz schnell. Ich könnte abhauen, dachte ich mir, doch mir wurde bewusst was Jody heute früh zu mir meinte. Auf dem Schiff zu sein war wahrscheinlich immer noch sicherer, als im Dunkeln in dem Meer zu schwimmen.

Leise stand ich auf, auf Zehenspitzen lief ich zu der Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Vorsichtig schaute ich auf den Flur. Mein Blick ging nach rechts, wo mehrere Hängematten gespannt waren. In allen schliefen die Piraten fest.
Würde es ihnen auffallen, wenn ich für einen kurzen Moment ans Deck ginge?Nur kurz, ein wenig die Seeluft schnuppern und dem Meer lauschen.

Ich wartete noch einen weiteren Moment ab, doch keiner schien mehr wach zu sein. So leise wie möglich schlüpfte ich die Tür hindurch und schloss sie hinter mir. Auf Zehenspitzen lief ich den Flur entlang. Links und rechts befanden sich die Hängematten, in denen die schnarchenden Piraten lagen. Aufmerksam beobachtete ich sie. Plötzlich drehte sich einer um, ein Taschenmesser rutschte ihm aus der Hand. Ruckartig blieb ich stehen, doch der Pirat schlief weiter.

Ich könnte mir das Messer nehmen. Eine Sekunde brauchte ich, um mich zu entscheiden. Vorsichtig trat ich näher an die Hängematte und nahm es in die Hand. Das Messer war schön spitz und glänzte gefährlich in dem Schein der Laternen.

Ich hielt es fest in der Hand. Erst recht, als ich bemerkte, dass die vorderste Hängematte leer war.
Jemand war noch wach. Mein Blick glitt weiter nach vorne, die Treppe hoch. Die Luke nach draußen stand offen.

Ich packte das Messer fester. Vorsichtig stieg ich die Stufen hoch. Ich blickte raus in das Schwarz der Nacht. Niemand war zu sehen. Mein Herz raste, ich begann zu schwitzen. Trotz meiner aufkeimenden Angst machte ich einen Schritt auf dem Holzboden, welchen ich vor wenigen Stunden noch geschrubbt hatte. Ich hob meinen Blick hinter mir hoch zu der Erhöhung wo das Steuerrad war, doch auch dort befand sich keine Person.

Nichts geschah, ich lief wachsam weiter. Meine Augen gewöhnten sich bereits an die Dunkelheit, schemenhaft erkannte ich die Umrisse des Schiffs. Ich trat näher an die Reling und blickte hinaus. Leise plätscherte das Wasser, der Wind von heute Mittag schien eingeschlafen zu sein. Es wirkte fast schon friedlich.

Ich folgte der Reling und ging weiter. Mein Blick war stets zum Horizont gerichtet. Ziemlich genau vor vier Tagen floh ich aus dem Schloss Tikum. Die Zeit verging so schnell, doch ich bereute meine Entscheidung keineswegs. Ich vermisste auch meine Eltern nicht, nur an Edith musste ich denken. Ihr hatte ich alles zu verdanken. Irgendwann würde ich Edith rausholen, aus den Fängen meiner Eltern.

Gedankenverloren machte ich mich auf den Rückweg. Schließlich wollte ich diesen kurzen Moment der Freiheit nicht ausreizen. Unaufmerksam lief ich geradewegs zurück zur Luke, aus der ich gekommen war. Erst zu spät bemerkte ich, die Bewegung auf der Erhöhung darüber.
„Wurde auch Zeit." Eine kurze Pause entstand. Ich erstarrte wie zu Stein. „Hochkommen." Die Person konnte ich nicht erkennen, nur hören, doch das reichte. Ich wusste, dass es Jody war.

Ich hielt das Messer fest in der Hand und versteckte es hinter meinem Rücken. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, doch ich stieg die Treppe hoch. Jody stand am Steuerrad, lehnte sich jedoch lässig gegen einen Balken dahinter, anstatt zu lenken.

Keiner von uns beiden sagte etwas. Wir blickten nur in unsere Augen, tausend Fragen standen in ihren. Irgendwann löste sie sich und kam auf mich zu. Wie auch schon vor ein paar Tagen umkreiste sie mich. Panik ergriff mich. Sie würde jeden Moment das Taschenmesser sehen.

Ich hielt sie keine Sekunde aus den Augen und drehte mich mit ihr mit. Fieberhaft überlegte ich, wie ich das Messer verstecken konnte. Doch plötzlich ging alles ganz schnell. Jody stand gerade noch links von mir, da griff sie ruckartig nach meinem rechten Arm. Schmerzhaft bog sie ihn nach hinten auf meinen Rücken.

Ein Tritt in meine linke Kniekehle ließ mich auf den harten Holzboden fallen. Ein stechender Schmerz zog in meine Beine.
Ich biss mir auf die Wange um einen Schrei zu unterdrücken.

Das Messer schnellte aus meiner Hand. „Richards Taschenmesser, interessant."
Jody ließ meinen Arm wieder los. Ich stützte mich mit beiden Händen von dem Boden und richtete mich auf. Mit zusammengezogenen Augenbrauen suchte ich Jodys Blick.
Meine Panik verwandelte sich rasend schnell in Wut. „Was willst du von mir?" Es muss wie ein Zischen geklungen haben.

Sie schien wenig beeindruckt von meinem Gemütszustand.
„Reden."
„Und dafür musst du mich auf den Boden drücken?"
Jody lief unbekümmert zum Steuerrad, drehte es ein wenig und lehnte sich wieder gegen den Balken.
Sie drehte das Messer in ihrer Hand, ließ ihren Zeigefinger jedoch auf der scharfen Messerspitze.

„Ja." Sie schaute mich nicht einmal an.
Dies befeuerte nur weiter meine Wut. Schnellen Schrittes kam ich näher. „Kannst du aufhören mir immer so knapp zu antworten?"
Sie hob ihren Blick und starrte mich ausdruckslos an. „Kannst du aufhören mich anzulügen?"

Sie blinzelte nicht einmal. Umgehend wandte ich meinen Blick ab.
„Seit du hier bist, hast du mir kein einziges Mal die Wahrheit gesagt."
Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte, denn es stimmte. Keine ihrer Fragen hatte ich beantwortet. Jody hingegen sprach zwar nicht viel mit mir, aber sie gab mir immer eine Antwort, wenn ich etwas fragte.

„Wieso war die Zelltür nicht abgeschlossen, wenn du mir so misstraust?" Ich hatte mich ein wenig beruhigt und lehnte mich neben sie an den Balken.
„Weil du keine Gefahr darstellst."
Verwundert blickte ich zu ihr. Jodys Augen ruhten auf meinen.
„Du hast absolut keine Ahnung wie man mit einem Messer umgeht, geschweige denn wie man sich verteidigt."

Bevor ich etwas einwenden konnte, richtete sie sich auf und warf das Taschenmesser so, dass es mitten in dem Mast vor uns stecken blieb. Ich erschauderte, war jedoch zugleich begeistert wie präzise sie mehrere Meter weit werfen konnte. „Nicht schlecht."

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich, wie Jodys rechter Mundwinkel nach oben zuckte. Etwa ein Lächeln?
Sie vergewisserte sich noch einmal, dass wir den Kurs hielten und lehnte sich erneut zurück. „So Püppchen, dann fangen wir mal von Vorne an. Wie heißt du und wo kommst du her?"

Verdammt.

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Hallo zusammen,
nach einer etwas längeren Pause bin ich wieder zurück mit einem weiteren Kapitel.
Ab jetzt werde ich auch wieder regelmäßiger posten.

Eure Felia :)

Meer aus LügenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt