Kapitel 1

1.6K 100 183
                                    

Songempfehlung: Taylor Swift ft. Lana del Rey - Snow on the beach

Zwei Monate später

Zwanzig Sekunden.
Ich hatte zwanzig Sekunden Frieden gespürt.
Zwanzig Sekunden, in denen ich tot gewesen war.
In denen mein Herz aufgehört hatte zu schlagen.
Zwanzig Sekunden, in denen ich nicht mehr für etwas hatte kämpfen müssen, das zum Scheitern verurteilt war.

Ich war bereit gewesen, zu gehen.
Diese Welt zu verlassen.
Ich war bereit gewesen, zu sterben.
Ich wollte sterben.
Und es hatte den Anschein gehabt, dass mir dieser letzte Wunsch sogar erfüllt wurde.

Bis mich jemand mit Gewalt zurück ins Leben gerissen hatte.
Bis jemand mein Herz mit roher Willenskraft dazu gezwungen hatte, weiter zu schlagen.

Doch nicht nur irgendjemand.

Julian Wright.

Allein seinen Namen zu denken, schmerzte so sehr in meiner Brust, dass ich fürchtete, jeden Moment einen erneuten Herzstillstand zu erleiden. Er hatte meinen Wunsch nicht respektiert. Sich über meinen Willen hinweg gesetzt. Mir meine Entscheidung abgenommen. Eine Entscheidung, die mir alles bedeutet hatte.

Mein ganzes Leben schon bestand aus Klinikaufenthalten, Operationen, Medikamente und Krankheit. Aus Entscheidungen, die entweder meine Eltern oder die Ärzte für mich trafen. Und alles, was ich mir bis dato gewünscht hatte, war das Führen eines normalen Lebens. Ein Leben, das dem eines neunzehnjährigen Mädchens auf dem College gleichkam. Und dann hatte ich sterben wollen. Selbstbestimmt. Auf natürliche Art und Weise.

Mit aller Macht am Leben gehalten zu werden, war das Letzte, das ich wollte.

Doch genau das war passiert.

Einen Herzstillstand mit einsetzender Asystolie zu überleben, lag gerade mal bei knappen zehn Prozent. Und ich gehörte zu dieser angeblich glücklichen Minderheit, wie man sagte. Wobei dieses Glück relativ war. Glück war meiner Auffassung nach, nicht jeden Tag eine handvoll Tabletten schlucken zu müssen. Glück war, mehrere Monate ohne Rhythmusstörungen zu erleben. Und Glück war, gar nicht erst herzkrank geboren zu werden. Aber einen ganzen Monat in einem Krankenhaus zu verbringen, gehörte definitiv nicht zu meiner Definition von Glück. Besonders dann nicht, wenn man wegen einer Hypoxie Folgeschäden erlitt.

Mein Blick fiel auf meine linke Hand, die seit meinem Erwachen immer wieder zitterte und zuckte. Zunächst hatte man angenommen, dass ich den Herzstillstand ohne Folgen überlebt hatte. Aber nach einigen Tagen und zahlreichen Tests erkannte man, dass der Sauerstoffmangel in meinem Gehirn wohl doch seinen Tribut forderte. Ich litt unter Myoklonie, hatten mir die Ärzte erklärt. Dabei handelte es sich um rasche, unwillkürliche Muskelkontraktionen meiner Hand, die mich in den ungünstigsten Momenten überkamen und die dafür sorgten, dass ich nun noch mehr Medikamente schlucken musste, als ohnehin schon. Es war wie dieses Zucken kurz bevor man einschlief. Nur eben in meiner Hand. Manchmal konnte ich meine Hand stundenlang ohne Einschränkungen nutzen, aber dann gab es wiederum Tage, an denen ich es nicht einmal schaffte, nach einem Wasserglas zu greifen. Meine Verzweiflung war fast so groß wie der Wunsch, in dem Vorlesungssaal gestorben zu sein. Zwar versuchte ich mich mit der Tatsache zu trösten, dass ich immer noch eine gesunde Hand besaß, doch die Wahrheit war, dass ich jeden Tag Tränen deswegen vergoss.

Und leider waren die motorischen Schwierigkeiten bei weitem nicht alles, was mir durch den Herzstillstand aufgebürdet worden war. Nein, auch Koordinations-, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen waren von nun an mein täglicher Begleiter und wenn man meine Psychiaterin fragte, die ich seit dem Vorfall ein Mal in der Woche besuchen musste, litt ich auch unter posttraumatischem Stress und einer leichten Depression.

His HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt