Kapitel 17

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Songempfehlung: Tate McRae - Calgary

Das Meeresrauschen toste in meinen Ohren und die orange-violette Dämmerung setzte bereits ein. Julian hatte mir eine volle Stunde einfach nur zugehört. Er äußerte sich nicht viel zu meinen Erzählungen, aber das war auch nicht notwendig. Er folgte einfach nur meinen Worten und signalisierte mir, dass er hier war. Dass er für mich da war und am Wichtigsten - dass er mich verstand. Zum ersten Mal seit wir uns kannten, hatte ich wirklich das Gefühl, dass er meine Beweggründe und meine Gedankengänge nachvollziehen konnte. Und vielleicht... vielleicht konnte er nun sogar verstehen, weshalb mich der Gedanke an meinen unausweichlichen Tod weitaus weniger erschreckte, als der vor weiteren Enttäuschungen.

Kurz hatte ich sogar überlegt, Julian von Daphne und Misha zu erzählen, von der Tatsache, dass Dylan die beiden auf dem Ball zusammen erwischt hatte. Schon viel zu lange enthielt ich ihm diese Information vor. Um genau zu sein seit fast vier Wochen, als Dylan Mitte Februar im Book Trader das Gespräch zu mir suchte, um mir die Neuigkeit zu offenbaren. Bisher hatte ich es noch nicht übers Herz gebracht, Julian davon zu erzählen. Zu meiner Verteidigung jedoch hatte ich auch alle Hände voll zu tun gehabt mit dem Lernstoff, den wir uns für die Midterms hatten einverleiben müssen. Und die wenigen Verabredungen außerhalb seines Vorlesungssaal hatten sich auf Forschungstreffen beschränkt. Es hatte also keinen Raum für Privates gegeben.

Aber jetzt? Jetzt waren die Prüfungen vorbei und ich saß hier neben ihm und hätte die Gelegenheit dazu. Die Worte lagen mir sogar schon auf der Zunge und mein Herz drohte mir vor Nervosität schier aus dem Brustkorb zu springen. Jedoch entschied ich mich in letzter Sekunde dagegen. Ich wollte unsere Verabredung nicht ruinieren, indem ich Julians Exfrau zur Sprache brachte und für miese Stimmung sorgte. Dieser Abend gehörte uns. Vielleicht würde sich ja später noch eine Gelegenheit ergeben, es ihm zu sagen.

Nach einer ganzen Weile des Schweigens, in denen wir das Kommen und Gehen der Wellen beobachtet hatten, stemmte Julian sich schließlich hoch und bot mir wieder die Hand dar, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein. Ich hob das Gesicht und für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Mein Mund wurde staubtrocken, aber ich ergriff seine Hand und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen, bis ich unmittelbar vor ihm stand.

Nur ein paar Zentimeter trennten uns noch voneinander und ich legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Sein stechender Blick traf mich mitten in die Seele und ich schluckte schwer.

»Bist du bereit für Überraschung Nummer zwei?«, raunte er und neigte den Kopf zu mir herab. Plötzlich war er mir unglaublich nahe. Seine Augen klebten regelrecht an meinen Lippen, als wären sie ein Gemälde, von dem er den Blick nicht abwenden konnte.

Wollte er mich etwa... küssen?
Sollte das Überraschung Nummer zwei sein?

Mein Atem beschleunigte sich und mein Körper reagierte wie von selbst auf seine unmittelbare Nähe. Gänsehaut überfiel mich und mein Innerstes zog sich vor Lust zusammen. Es kostete mich jedes Fünkchen Selbstbeherrschung, mich nicht auf die Zehen zu stellen, um diese letzte Entfernung zwischen uns zu überwinden.

Panik ergriff Besitz von mir. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als seine Lippen auf meinen zu spüren. Ich wollte der Leidenschaft, die zwischen uns brannte und uns beinahe zu verschlingen drohte, endlich nachgeben. Wollte sie zulassen. Sie fühlen. Mich von ihr vereinnahmen lassen, bis ich jegliches Gefühl für Raum und Zeit verlor. Doch gleichzeitig wusste ich auch tief in meinem Inneren, dass es nicht richtig war.

Ich wollte Julian noch eine Chance geben. Das wollte ich wirklich. Aber es wäre ihm gegenüber unfair, ihn körperlich an mich heranzulassen, wenn ich emotional noch nicht offen dafür war. Davon einmal abgesehen musste ich ihm auch zunächst noch gestehen, was ich über Daphne und Misha herausgefunden hatte. Wenn wir es dieses Mal richtig machen wollten, mussten wir ehrlich sein und einander lernen zu vertrauen.

His HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt