Kapitel 14

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Songempfehlung: Novo Amor - Anchor

Im Dunkeln starrte ich an eine Zimmerdecke, von der ich wusste, dass sie nicht zu meinem Dorm im Jonathan Edwards gehörte. Nein, sie gehörte zu einem Gästezimmer. Julians Gästezimmer, um genau zu sein.

Es mochten Minuten vergangen sein. Stunden. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Alles, was ich noch wahrnahm, waren die salzigen, getrockneten Tränen auf meinen Wangen und meinen eigenen Herzschlag, der schwermütig unter meiner Handfläche pochte, als wäre jeder einzelne Schlag davon eine Qual.

Eins zwei.
Eins zwei.
Eins zwei.

Ich konnte nicht schlafen.

Die wohltuende, erholsame Leere des Schlafes wollte mich einfach nicht einholen. Oder besser gesagt - ich wollte nicht, dass sie mich einholte. Denn ich hatte Angst. Angst davor, die Augen zu schließen und in einem Albtraum aufzuwachen, der ein Gleichnis meiner eigenen, ganz persönlichen Hölle darstellte. Es war ein Albtraum, der mich beinahe Nacht für Nacht heimsuchte. Ein Albtraum, in dem ich auf dem kalten Boden eines Vorlesungssaals lag und starb. Ich spürte, wie mein Herz allmählich den Dienst niederlegte. Wie es mit jedem weiteren Schlag an Kraft verlor, bis es schließlich verstummte - und genau dann wachte ich jedes Mal schreiend auf.

Meine Psychiaterin, Mrs Jenkins, nannte die Ursache hierfür posttraumatischen Stress. Ich nannte es jedoch einfach nur ein großes Übel, das mir den Schlaf raubte. Mrs Jenkins hatte mir erklärt, dass eine Beinahetoderfahrung auf manche Menschen belebend wirkte. Offenbarend. Dass es die Macht besaß, Menschen wachzurütteln und sie das Leben danach bewusster genossen. Bei manchen wiederum hatte es die gegenteilige Wirkung und sie stürzten in eine tiefe Depression. Ich war mir noch immer nicht so sicher, welcher Kategorie ich angehörte, jedoch sah ich mich aktuell wohl eher in letzterer.

Jenkins war zudem der Auffassung, dass ich mich noch nicht mit dem Tod abgefunden hätte. Nein, sie war der Meinung, dass ich noch immer Angst vor dem endgültigen Ende des Lebens besaß, auch wenn sie es mir gegenüber niemals erwähnen würde - denn Psychologen sollten schließlich um Himmels Willen nicht wertend sein. Aber es war auch nicht notwendig, dass sie es aussprach. Ich war schließlich nicht von gestern. Ich erkannte es an der Art und Weise, wie sie mich wie ein Schweizer Käse mit Fragen löcherte. Wie sie mich mit ihren Argusaugen musterte und wie sie mich dahingehend Dinge hinterfragen ließ. Ja, Jenkins war gut in dem was sie tat. Deshalb wusste sie auch, dass es noch etwas gab, vor dem ich mehr Angst hatte, als vor meinem bevorstehenden Tod: Die Angst vor dem Leben.

Sicherlich fragte man sich nun, wie jemand gleichzeitig Angst vor dem Tod und dem Leben haben konnte. Nun ja, eine berechtigte Frage, auf die ich selbst noch keine Antwort wusste. Allerdings stand eindeutig fest, dass der Zustand, in dem ich mich aktuell befand, kein spaßiger war. Nein, es fühlte sich eher an, als hinge ich in der Schwebe, unwissend darüber, ob ich jemals wieder festen Boden unter den Füßen spüren oder in eine gähnende Leere stürzen würde.

Es war furchtbar.

Seufzend rollte ich mich hin und her. Die Tatsache, dass Julian nur ein Zimmer weiter schlief, machte das Ganze nicht besser. Im Gegenteil. Die Versuchung, einfach aufzustehen, mich zu ihm zu schleichen und mich an ihn zu kuscheln, war ungemein groß. Oh ja, es war reizvoll. Verlockend. Und das, obwohl Julian die Ursache für meine Schlaflosigkeit und mein eigenes, ganz persönlich Trauma war. Doch paradoxerweise war ich mir absolut sicher, dass ich in seinen Armen schlummern würde, wie ein Baby.

Tja, die Wege des Herzens waren unergründlich - oder so Ähnlich.

Ich starrte noch ein paar Sekunden lang an die Zimmerdecke, ehe ich fluchend die Bettdecke zurückschlug, die Beine über das Bett schwang und aufstand. Nicht, um auf leisen Sohlen zu Julian zu schleichen, was ich definitiv lieber getan hätte, sondern um zum Badezimmer zu gehen und meine Notdurft zu verrichten. Leider gehörte ich zu der Sorte Mensch, die zwanghaft hundert Mal zur Toilette marschierten, ehe sie sich wirklich schlafen legten. Ob dieser Zwang aus der Angst heraus geboren war, in ein fremdes Bett zu nässen, nachdem ich im Alter von acht bei einer Pyjamaparty auf die Matratze meiner damaligen besten Kindheitsfreundin Sarah gepinkelt hatte? Gut möglich! Zu meiner Verteidigung hatte ich jedoch geträumt, auf einer Toilette zu sitzen! Das interessierte Sarah jedoch herzlich wenig. Denn danach waren wir jedenfalls keine besten Freundinnen mehr.

His HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt