Kapitel 32

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Endlich war es Heiligabend geworden. Die meisten Schüler waren über die Ferien zu ihren Familien gereist. Ich wanderte gedankenverloren durch das menschenleere Schloss, ohne ein genaues Ziel zu haben. Das ganze Schloss war festlich geschmückt. Überall standen kleine Weihnachtsbäume, rote Schleifen zierten jede Säule und Treppe. Und hier und da hingen Mistelzweige von der Decke. Vor den Fenstern tanzten die Schneeflocken im sterbenden Licht der Wintersonne. Ich blieb stehen und beobachtete das Spektakel eine Weile. Meine Gedanken schweiften zu meinen Eltern, die über die Feiertage meine Tante in Hammerfest besuchten. Wie viel Schnee jetzt wohl bei ihnen liegt? Ich hätte Weihnachten ja gern mit meiner Familie verbracht, aber der Norden von Norwegen war mir zu dieser Jahreszeit einfach zu kalt und außerdem konnte ich auf eine Begegnung mit meiner Cousine gut verzichten. Wir haben uns noch nie gut verstanden und als meine Eltern meiner Tante stolz von meinen Kräften berichteten, wurden Emilys Anfeindungen gegen mich nur noch schlimmer. Seitdem vermied ich es tunlichst zu Familientreffen zu gehen, bei denen Emily auch sein könnte.

Ich seufzte und taperte weiter ziellos durch das Schloss. Ich vermisste meine Eltern sehr und mein Herz wurde schwer. Irgendwann würde ich sie nach Hogsmeade einladen. Vielleicht stelle ich ihnen dann auch Sebastian vor. Der Gedanke an Sebastian, wie er von meinem Vater hopsgenommen wird, ließ mich schmunzeln. Die beiden würden sich super verstehen. Ehe ich mich versah, stand ich vor dem Eingang zur Krypta. Ich wusste nicht, warum mich meine ziellose Reise hierhergeführt hatte und doch verspürte ich den Drang durch die Uhr zu klettern. Auf dem Weg in die Krypta hörte ich ein leises Schluchzen, welches mir einen Stich ins Herz versetzte. Das Rattern des Gittertors ließ Sebastian, welcher sich an einer Säule gegenüber des Denkariums zusammengekauert hatte, aufschrecken. Eifrig wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, machte sich jedoch nicht die Mühe aufzustehen. „Hey, was ist los?", fragte ich ihn und ging auf ihn zu. Sebastian schüttelte bloß den Kopf und zog seine Knie noch näher an seine Brust. Dieser Anblick verursachte einen dicken Kloß in meinem Hals. Seufzend ließ ich mich neben Sebastian auf den kalten Steinboden sinken und lehnte mich gegen seine Schulter. „Es ist das erste Weihnachten ohne Anne", brachte er zwischen Schniefern hervor. „Wir haben jedes Fest zusammen verbracht und jetzt..." Er schüttelte den Kopf und stützte ihn auf seine Knie. Ich wollte ihm helfen, irgendetwas tun, damit es ihm besser geht, doch ich wusste nicht, was. Also schlang ich etwas hilflos meine Arme um ihn und zog ihn in eine feste Umarmung. Leise schluchzend sank der Slytherin in meine Arme und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. „Sie hasst mich, Y/N! Meine eigene Zwillingsschwester hasst mich." Sebastians Körper bebte und ich spürte, wie der Stoff meines Pullovers langsam durchnässt wurde. Doch das war mir in dem Moment egal. Alles, was ich wollte war, dass es Sebastian besser ging. Ich drückte ihn noch fester an mich, als würde ich ihn so vor seinen Gefühlen beschützen können. Schweigend hielt ich ihn in meinen Armen. Alles, was ich sagen würde, wäre kein Trost. Anne hatte in ihrem Abschiedsbrief für Sebastian geschrieben, dass sie ihn liebte, aber ihm vermutlich nie verzeihen könnte, was er getan hatte. Und daran gab es nichts schönzureden. Außerdem kannte ich Anne zu wenig, um Spekulationen aufzustellen, ob sie ihrem Bruder nicht doch verzeihen würde. Ich konnte nur vermuten, dass sie ihn mindestens genauso sehr vermisste, wie er sie. Sanft drückte ich Sebastian einen Kuss auf sein weiches, kastanienbraunes Haar und atmete den Duft von Zedernholz tief ein.

Wir saßen noch eine Weile schweigend und eng umschlungen auf dem Boden in der Krypta, ehe Sebastian sich von mir löste. „Entschuldige. Ich hab' deine Schulter getränkt", nuschelte er und versuchte seine Tränen von meinem Pullover zu wischen. Ich streichelte seine Wange und suchte seinen Blick. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Manchmal muss man es einfach rauslassen." Sebastian schaute mich mit großen Augen an. In dem roten Augenweiß wirkte das Haselnussbraun viel dunkler. „Ich vermisse sie, Y/N." „Ich weiß", flüsterte ich und kämpfte gegen meine eigenen Tränen an. Ich wusste, wie schlimm es sein kann, jemanden zu vermissen. Doch eine Person zu vermissen, von der man nicht wusste, ob sie einem jemals verzeiht, ob man sie je wiedersehen würde, oder ob die Person noch lebte – Das war eine ganz andere Hausnummer. Sebastian lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Steinsäule und atmete einmal tief aus. Auf der Suche nach ein wenig Trost für uns beide legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und verschränkte meine Finger mit seinen. „Warum bist du eigentlich geblieben?", fragte der Slytherin aus dem Nichts. „Warum hast du mich nicht verraten? Warum hast du zu mir gehalten?" Überrumpelt starrte ich Sebastian an. „Weil ich es nicht konnte", erklärte ich. „Der Gedanke daran, dich zu verlieren und dein Gesicht auf der Titelseite des Tagespropheten zu sehen..." Ich schüttelte den Kopf. „Das hätte ich nicht ertragen und du hättest es nicht verdient. Vielleicht war es auch ein wenig egoistisch." Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich würde alles tun, um die Menschen, die ich liebe zu beschützen. Und das hast du auch getan." Sebastian nickte stumm und ließ seinen Blick sinken. „Ich weiß, dass du Ominis und Anne überredet hast, mich nicht dem Ministerium auszuliefern." Mir klappte der Mund auf. „Ominis hatte es mir in einem Streit an den Kopf geworfen. Wir haben uns im Sommer sehr oft gestritten", erklärte er mir. „Ich... ähm..." Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten, geschweige denn reagieren sollte, doch das übernahm Sebastian bereits für mich. Sanft streichelte er meine Wange und küsste mich. „Danke, dass du so egoistisch warst. Ich habe dich gar nicht verdient." Er küsste mich noch einmal. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist." Mein Herz machte einen Satz. Ich wollte ihm sagen, wie glücklich er mich machte, wie sehr ich ihn liebte, doch ich brachte keinen Ton heraus. Stattdessen drückte ich sanft meine Lippen auf seine. Sebastian erwiderte meinen Kuss und zog mich auf seinen Schoß. Unser Kuss war leidenschaftlich und doch war er anders als alle anderen zuvor. Anstatt voller Begierde und Lust war dieser Kuss gefüllt mit Vertrauen, Verletzlichkeit und Liebe. Wir küssten uns nicht nur zum Vergnügen, sondern um uns zu zeigen, wie viel wir uns bedeuteten. Die Zärtlichkeit, die Sebastian mir gab, ließ mein Herz in einem ganz neuen Takt schlagen. Ich wollte, dass dieser Moment nie endete. Doch Sebastian löste sich mit einem Seufzer von mir. „Hättest du etwas dagegen, wenn wir uns einen bequemeren, wärmeren Ort suchen? Mein Hintern wird kalt und außerdem habe ich das Gefühl, dass sich meine Arschknochen langsam aber sicher durch meine Hose bohren." Er schenkte mir ein schiefes Grinsen. Kichernd stand ich auf und reichte ihm meine Hand. „Na komm, ich kenne da ein super gemütliches Bett, das unsere Namen ruft."

In the Shadows - Sebastian Sallow x Reader (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt