5. SPIEGELBILD

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Ein Wiedersehen mit meinem Spiegelbild hatte ich nicht erwartet.
Nicht, nach all den Jahren.
Ich wusste nicht, ob es an dem beinahe blinden Film lag, aber ich erkannte mich kaum wieder.
Als ich das letzte Mal in den Spiegel sah, war ich kleiner, hatte langes blondes Haar und war gefangen in den rüschigen, puppenähnlichen Kleidungsstücken, in die mich meine Mutter zwängte.
Das war nicht ich.
Und noch weniger war ich die Person, die mir nun gegenüber stand.
Dünn, blass, struppige Haare, zerkratze Haut.
Ich wusste nicht, was ich war.
Ich war Jemand.
Nur nicht ich.
,,Und? Was gefunden?" fragte Chuck, während er Haarfarbe anrührte.
Es stellte sich heraus, dass Chuck ein begabter Dieb war.
Er hatte Haarfarbe, ein paar Klamotten und Essen gestohlen, ohne erwischt zu werden.
Das war ziemlich beeindruckend.
Ich drehte mich zu ihm und er betrachtete mich in meinem neuen Outfit.
Es bestand aus einem schwarz-weiß gestreiften Pullover, einer schwarzen Hose und schwarzen Schuhen.
Dazu trug ich noch eine silbere Kette und einige Ringe.
Es sah ziemlich gut aus.
,,Sieht gut aus und wesentlich besser, als dieses olle Zwangshemd." sagte er und lächelte.
Dann winkte er mich näher.
,,Komm, ich kümmere mich um deine Haare."
Ich setzte mich auf den Stuhl vor ihn und Chuck begann meine Haare zu entwirren und zu schneiden.
Zum Schluss nahm er die angerührte Farbe und färbte einige Haarsträhnen in meinem Pony rot.
Nach einiger Zeit durfte ich das Endresultat betrachten.
Ich sah nicht mehr so aus, wie mein 12-jähriges Ich oder die zerschlagene Person aus der Psychatrie.
Ich sah wieder wie ein Mensch aus.
Wie ein junger Mann.
Wie Ich.
Ich wischte meine Ponyhaare über mein rechtes, blindes Auge.
Durch die Injektionen mit den Giftstoffen war es erst geschwollen, rot geworden und nach dem Abschwellen schließlich komplett farblos und blind geworden.
Es sah seltsam aus.
Matt und tot.
Ich spürte plötzlich, wie Chucks rechter Zeigefinger den hellblonden Pony wieder etwas wegstrich.
,,Warum versteckst du es?" fragte er, während er hinter mir stand und ebenfalls in den Spiegel vor mir blickte.
,,Weil...es seltsam aussieht." erwiderte ich.
Mein Herz schlug seltsam schneller bei Chucks Berührung.
Der große, dunkelhaarige Mann schüttelte den Kopf.
,,Ich finde es sieht cool aus. Es sieht aus, als hättest du zwei verschiedene Augenfarben." meinte er.
Ich erwiderte nur ein etwas schüchternes Lachen, dann drehte ich mich zu ihm um.
,,Was machen wir jetzt?" fragte ich.
Chuck setzte sich zurück auf seinen Stuhl.
,,Ich kann dir zeigen, wie man richtig gutes Mac and Cheese macht." schlug er vor.
Ich schmunzelte leicht.
,,Klingt verlockend aber ich meine eigentlich, was wir jetzt mit unserem Leben hier anfangen." erklärte ich.
Chuck lehnte sich zurück und dachte kurz nach.
,,Nun ja, in die Gesellschaft zurückkehren können wir nicht. Keiner würde dich, einen Mörder und mich, einen Taschendieb mit einer Psychose, niemals akzeptieren. Sie würden uns nur wieder einsperren." erklärte er.
Ich nickte leicht.
Er hatte recht.
Keiner würde uns akzeptieren.
Dann sah ich ihn neugierig an.
,,Du hattest eine Psychose?" fragte ich.
Chuck nickte.
,,Ja, aber das ist Monate her. Die da in der Psychatrie haben mich aber nicht gehen lassen, sondern mich mit Medikamenten vollgepumpt. Fast wie bei dir." sagte er.
Dann schüttelte den Kopf.
,,Aber egal. Ich lebe in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit." meinte er abschließend.
Das war gar kein schlechtes Mantra.
Chuck dachte einen Augenblick nach, bevor er leicht grinste.
,,Weißt du, Prim, ich glaube ich habe eine Idee, wie wir unser schönes freies Leben gestalten können."
Ich sah ihn fragend an.
,,Und wie?"
Chuck tippte mit dem Zeigefinger auf der Armlehne von seinem Stuhl herum.
,,Ich habe vor meiner Einweisung einer Gang angehört. Wir haben in den Straßen gelebt und gestohlen. Ich denke wir sind bei denen ganz gut aufgehoben." meinte er.
Ich neigte den Kopf.
,,Denkst du?" fragte ich unsicher.
Chuck lehnte sich vor und nahm meine Hand in seine.
Seine dunklen, braunen Augen sahen in meine.
,,Ganz bestimmt. Wir sind Außenseiter, Prim. Und genau deshalb müssen wir zusammenhalten." sagte er und lächelte aufmunternd.
Wir waren Außenseiter und deshalb mussten wir zusammenhalten.
Er hatte so recht mit dieser Aussage.
Es war beinahe unvorstellbar, doch langsam konnte mir eine mögliche Zukunft ausmalen.
Eine Zukunft, in der ich vielleicht glücklich werden konnte.

EMPTY // VILLAIN Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt