Kapitel 1 - düstere Zukunftsaussichten

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03.05.1903 in einer Stadt in Deutschland

"Viktoria, wann wirst du endlich heiraten? Du bist bereits 20 Jahre alt und verhältst dich als wärst du... als wärst du ein... als wärst du ein Mann. So wirst du niemals einen Ehemann finden, was für eine Schande für unsere Familie. Undankbare -"

"Liebling, beruhige dich. Viktoria ist zu einer wunderbaren jungen Frau herangewachsen und wird ihren Weg gehen. Wir sollten stolz darauf sein, dass sie sich um sich kümmern kann und keinen Mann an ihrer Seite braucht."

"Hermann, du hast unsere Tochter endlos verzogen. Deine idealistischen Weltanschauungen werden sie noch um Kopf und Kragen bringen. So denk doch mal nach, welche Möglichkeiten bleiben Frauen? Ohne einen Mann wird sie niemals für sich sorgen können. Niemals ihren Aufgaben als Frau nachkommen und uns Enkelkinder schenken"

Tagtäglich dasselbe Konversationsthema. Immer wenn meine Mutter von ihrem täglichen Kaffeeklatsch zurückkehrte, wie ich ihn gerne in meinem Kopf nannte. Die anderen Frauen dort schwärmten stets von ihrer Familie, den Erfolg ihrer Söhne und die Ehen ihrer Töchter. Annabelle, die kürzlich 17 gewordene Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes, würde bald heiraten. Ihre Mutter, ein etablierter Teil des Kaffeeklatsches, hatte immer begeistert über die zahlreichen Männer erzählt, die um ihre Hand baten.

Meine Mutter trieb das in den Wahnsinn. Ich sah es in ihren Augen. Jedes Mal, wenn sie nach Hause kam. Und nun würde auch Annabelle heiraten; die jüngste Tochter der Whemmingtons. Somit war meine Mutter nun die einzige im Kaffeeklatsch, dessen Tochter nicht verheiratet war. Und dass, obwohl ich bereits 20 war. Die Gerüchte über mich wurden zunehmend abstruser. Was war wohl falsch mit mir, dass ich trotz unermüdlicher Versuche meiner Mutter keinen Mann fand? Was machte mich so abstoßend?

Meine Mutter selbst war die älteste Tochter eines Ministers. Ihre Zukunft hätte strahlend aussehen können, so hatte sie mir mal erzählt. Doch dann fiel ihr Vater in Ungnade mit dem Adel und plötzlich war ihr renommierter Status verschwunden. Ihre bereits lange geplante Ehe wurde durch die Familie des Verlobten beendet.

Das Geld ihrer Familie reichte nur so lange und so setzten ihre Eltern alles daran, sie möglichst schnell zu verheiraten. Mein Vater hatte sich in der Zeit bereits einen Namen als exzellenter Geschäftsmann gemacht. Im Gegensatz zur sehr konservativen Mehrheit erkannte er früh, dass ein Wandel bevorstand und stieg schnell auf den Zug der Industrialisierung auf. Er hatte sich den Erfolg selber erarbeitet. Anders als die meisten Unternehmer war er aus bescheidenem Hause.

Seine Eltern waren früh verstorben, weshalb er bei seinem Onkel in einem kleinen Dorf aufwuchs. Mein Vater hatte nie viel über seine Kindheit preisgegeben, doch seine Augen verrieten genug. Es war keine gute Zeit gewesen und ich war mir sicher das trug mit zu seinem späteren Erfolg bei. Sein Unternehmen baute er mühsam auf, bis es endlich eines zu einem der erfolgreichsten des Landes wurde.

Mein Großvater hatte bereits von ihm gehört und machte sich daran, meine Mutter an ihn zu verheiraten. Wenn die elitären Kreise, in denen er zuvor verkehrte, im den Rücken zukehren würde, dann würde mein Vater reichen. Am Ende klappte es. Er hatte zugestimmt, da er sie liebte. Sie tat was ihr Vater ihr sagte und so kam es zur Ehe, dann schließlich zu meiner Existenz. Ich hatte nie verstanden wie ein so freier Geist wie mein Vater sich in jemanden so traditionsbewusstes wie meine Mutter verlieben konnte.

„Viktoria, geh bitte auf dein Zimmer. Ich möchte mit deiner Mutter sprechen". Die Stimme meines Vaters brachte mich wieder in die Gegenwart und ich nickte schnell, bevor ich mich leise verabschiedete und die Treppen hochlief.

Ich wollte keinen Mann, jemanden der meinen Geist nicht schätzen würde. Jemanden, der mich in die Rollen zwingen würde, die meine Mutter immer für mich vorgesehen hatte. Eine stille, meinungslose Frau, deren einzige Funktion die Zeugung und Erziehung von Kindern ist. Mit einem Kopfschütteln betrat ich das Obergeschoss und schlurfte zu meinem Zimmer.

Schatten der Vergangenheit - Viktorias VermächtnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt