Die Wochen im Wald war es mir gut gegangen, die Geschehnisse waren nichts als ein leiser Hintergedanke gewesen. Doch jetzt, durch ein einziges Wort, war ich wieder zurück in dem Bett. Erinnerte mich, wie ich alles widerspruchslos über mich ergehen lassen hatte. Oh Gott, ich war so schwach, realisierte ich mit einem weiteren Schluchzen. Dieser eine Sieg gegen Willfried, als ich ihn mit meiner neuen Kraft gestoppt hatte. Doch das Gefühl der Macht war nichts als eine phantastische Illusion gewesen. Es genügte der kleinste Auslöser und schon war all meine neue Stärke nicht genug, ich war schwach.
"Deine Naivität ist fast schon amüsierend Viktoria. Doch du bist zu sehr von deinen Emotionen geleitet. Schau nur wie dein Körper zittert, wie deine Augen vor Angst aufgerissen zu mir aufblicken. Es ist nicht deine Schuld, sondern liegt in der Natur der Frau. Deshalb sind Männer stärker, wir verfügen über einen logischen Verstand."
In dem Moment hatten mich die Worte wütend gemacht. Doch jetzt, überkommen von meinen Gefühlen, wusste ich, es war wahr. Ich war naiv gewesen zu denken, die Flucht würde seinen Einfluss über mich lösen. Ich war in einer anderen Welt, unendlich weit weg von ihm, und trotzdem behielt er die Kontrolle. Meine Emotionen leiteten mich.
Eine Hand an meinem Arm ließ mich zurückschnellen und mit einem lauten Knall fiel ich auf den Boden. Panisch huschten meine Augen durch den Raum, war Willfried hier? Doch dann trafen meine Augen auf eine erschrocken zu mir blickende Elaria und langsam kam ich zurück zu mir. Verzweifelt fokussierte ich meinen Blick auf sie und atmete zitternd ein. Ein. Aus. Das Mantra ermöglichte es mir, langsam wieder klar sehen zu können.
Willfrieds Stimme in meinem Kopf wurde leiser, bis sie komplett verschwand und mein Herzschlag verlangsamte sich. Beschämt blickte ich auf den Boden, als mir mein Ausbruch bewusst wurde. Ich hatte unendlich überreagiert. Hastig erhob ich mich und auf zitternden Beinen, eine Entschuldigung flüsternd. Meine Hände fassten in mein Gesicht und wischten aggressiv meine Tränen weg. Mit der Sicht weiter auf den Boden gerichtet, sah ich elegante dunkelblaue Schuhe vor mir haltend. "Viktoria" flüsterte Elaria fassungslos und zögerlich richtete sich mein Blick auf sie. Das war ich ihr nach diesem Spektakel schuldig.
Ihre Augen strahlten so unendlich viel Trauer und Mitgefühl aus, dass ich schnell wieder weg blicken musste. Ihre Finger berührten vorsichtig mein Kinn und ich verfluchte mich innerlich dafür, dass ich automatisch zurück zuckte. Traurig seufzend senkte sie ihre Hand und hielt sie fest an ihre Seite. "Viktoria, bitte schau mich an" ihre Stimme war flehend und mein kaputtes Herz brach erneut. "Es tut mir leid" flüsterte ich stattdessen und setzte mich auf das Bett. Krampfhaft meine Hände knetend sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich Elaria mit Abstand neben mir niederließ.
*Trigger Warnung: in der folgenden Szene spricht Elaria über ihre traumatisierende Vergangenheit und Viktoria erzählt von ihrer Hochzeitsnacht. Vergewaltigungen werden in beiden Geschichten beschrieben, bei der Protagonistin mehr im Detail. Der Ende der Szene wird in kursiver Schrift angekündigt*
"Ich weiß nicht was dir passiert ist" begann sie leise "Aber ich kenne diese Panikattacken, habe sie selber früher durchgemacht" Schockiert schoss mein Blick zu ihr und sie lächelte mich traurig an, bevor ihr Blick abwesend nach vorne schaute.
"Ich bin über 800 Jahre alt. Diese Welt war damals anders, brutaler in so vielerlei Hinsicht. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in welcher sich ständig bekriegt wurde. Wir lebten in einem kleinen Dorf weit entfernt von der Hauptstadt Hallars, also bekamen wir nicht allzu viel von den Kämpfen mit." Mit einem Seufzen fuhr sie fort
"Ich bin alt Viktoria und das nicht wegen der Zahl meines Alters. Viele fielen damals, zahlreiche Leben jeden Tag beendet. Während der Rest der Welt sich bekriegte, lebten wir lange normal weiter, nichts wissend von dem Chaos in der Welt.. Wir sind Heiler, lernen von Kindesalter auf die Bedeutung des Mächtegleichgewichts. Kriege liegen nicht in unserer Natur, weshalb wir wie zuvor auch in diesem Krieg keine Seite einnahmen. Unsere damalige Königin hatte uns so gut es ging aus den Kämpfen herausgehalten, doch dann wurde die Hauptstadt angegriffen. Das alles wussten wir damals nicht und gingen im Glauben, es wäre alles normal, unseren täglichen Aufgaben nach. Eines Nachts wurde ich von Schreien geweckt und war schnell rausgelaufen, um zu schauen, was passiert war."
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Schatten der Vergangenheit - Viktorias Vermächtnis
FantasyIm Jahr 1903 ist Viktoria eine 20 jährige Abnormität. Sie ist nicht verheiratet und träumt von einer Welt, in der sie frei leben kann. Dann platzt ihrer Mutter der Kragen und sie wird prompt an einen Mann verheiratet, der unter seiner Maske von Char...