Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Hinten auf der linken Seite hatte ich mir ein sporadisches Bett kreiert. Trotz meiner sehr begrenzten Kenntnisse über das Leben im Wald hatte ich mein Bestes gegeben, es möglichst gemütlich zu gestalten. Den Boden hatte ich mit Moos bedeckt und mich meines blutigen Kleides entkleidet, um es zu einer Hose und Oberteil zu wechseln. Da das Kleidungsstück mit den Rissen und Verfärbungen nicht mehr tragbar war schnitt ich mit dem Messer die Naht an der Seite des Kleides auf und legte es über das Moos. Decke und Kissen hatte ich darüber platziert und war positiv überrascht, wie gemütlich mein provisorisches Bett geworden war. Selbstverständlich war es nicht das, was ich gewohnt war. Aber daran würde ich mich gewöhnen müssen.
Aus dem Wald hatte ich mir abgefallene Äste genommen, teils größer als ich selbst, und sie mit immer noch überraschender Leichtigkeit vor der Höhle platziert. Die Äste selber hatten mir die ganze Zeit unangenehm in die Haut gestochen, aber das ertrag ich gerne. Mein altes Leben war vorbei, die körperliche Arbeit würde ich nun selber machen. Und so anstrengend, wie es trotz erhöhter Fähigkeiten war, so erschöpft war ich am Abend.
Die Äste hatte ich genutzt, um einen Sichtschutz zu bauen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass mich jemand hier suchen würde, war ich zumindest besser gesichert. Es war eine provisorische Lösung, welche erfahrene Jäger wenig ablenken würde. Aber es gab mir für den Moment ein Gefühl von Sicherheit und das hatte ich bitter nötig. Erst als ich in meinem neuen Bett lag bemerkte ich, wie angespannt meine Muskeln den Tag über gewesen waren. Sie endlich zu entspannen erlaubte es mir, meine erste Nacht im Wald mit Schlaf zu füllen. Ich wurde mehrfach von Tiergeräuschen geweckt, doch als die Vögel am Morgen zu zwitschern begannen fühlte ich mich voller Energie.
Doch dann bemerkte ich mit Erschrecken, ich war wieder hungrig. Das kleine Frühstück hatte wie zuvor im Herrenhaus nichts dazu beigetragen, das Gefühl zu stillen. Leise fluchend verließ ich die Höhle und setzte mich an den Rand des Felsens. Ich war rund drei Meter über der Erde. Früher wäre ich nie hier hochgekommen, hätte ehrlicherweise nicht mal darüber nachgedacht. Über die Jahre hinweg war ich zunehmend vorsichtiger geworden. Die ständigen Kommentare von Mutter hatten meinen Erkundschaftsdrang gedrosselt.
Wenn sie mich jetzt sehen könnte, würde sie wahrscheinlich vor Entsetzen ohnmächtig werden, dachte ich melancholisch. Der Hunger brachte mich aus meinen Gedanken und grübelnd kaute ich auf meiner Unterlippe. Das Verlangen zu unterdrücken, würde die Situation wahrscheinlich verschlimmern. Der Gedanke ließ mein Herz schneller schlagen. Ich müsste erneut ein unschuldiges Tier angreifen. Aber, dachte ich entschlossen. Dieses Mal würde ich es nicht töten. Unten sah ich einen Hasen herumhoppeln und seufzte schwer, meine Entscheidung gefasst. Leise erhob ich mich und sprang von dem Felsen.
Nach dem zahlreichen Hin und Zurück gestern war meine Landung nun weitaus besser geworden. Und ich hatte herausgefunden, dass die Einbeziehung meiner dunklen Seite dabei half. Fast lautlos auf dem Gras gelandet rannte ich blitzschnell zu dem Tier und hob es hoch. Es piepte verzweifelt und zappelte ununterbrochen in meinem Griff, doch ich blieb trotz schlechten Gewissens standhaft.
Mit dem kleinen Tier in meinem Arm setzte ich mich gegen einen Baum und konzentrierte mich darauf, meine Zähne schärfer werden zu lassen. Das schnell rennende Blut des ängstlichen Tiers hatte meine dunkle Seite bereits aufmerksam gemacht, was meine Bemühungen einfacherer gestaltete. Mit nun spitzen, leicht verlängerten Zähnen näherte ich mich langsam dem Hals des Hasen, mein Griff weiterhin sicher. Unter dem dicken Fell konnte ich die pulsierende Halsschlagader sehen und biss langsam rein.
Das Blut floss mir schnell den Hals runter und während meine menschliche Seite sich angeekelt in der hinteren Ecke meines Bewusstseins versteckte, versuchte ich mich auf den zunehmend langsamer werdenden Puls meines kleinen Opfers zu konzentrieren. Meine dunkle Seite versuchte die Kontrolle zu übernehmen, doch ich blieb standhaft. Es half mir ungemein, dass das Blut von Tieren weniger bekömmlicher als Menschenblut schien. Und so entfernte ich möglichst vorsichtig meine Zähne, der Hase nun ruhiger in meinen Armen. Hatte mein Biss bei Tieren den gleichen Effekt wie bei dem Jäger? Sein Stöhnen, welches ich zuvor erfolgreich verdrängt hatte, hatte mehr nach Erregung geklungen. Jetzt dass ich daran dachte, er hatte ähnlich wie Willfried bei der Konsumation unserer Ehe geklungen. Ein kalter Schauder lief mir bei dem Gedanken über den Rücken.
Eilig richtete ich meine Gedanken wieder auf den Hasen unter mir. Die Wunde war weitaus kleiner als die, die ich dem Reh zuvor zugefügt hatte. Kontrolliert von meiner dunklen Seite hatte ich es wie ein räudiges Tier angegriffen, dachte ich angeekelt. Vorsichtig leckte ich über die offene Wunde, um die Blutstropfen wegzubekommen. Ein geschocktes Lachen entwich mir. Die Wunde schloss sich langsam. Hatte meine Spucke etwa auch eine heilende Wirkung? Vorsichtig befreite ich den Hasen aus meinem Griff und beobachtete mit Tränen in den Augen, wie es sich kurz desorientiert umblickte und dann schnell weghoppelte.
"Ich habe es geschafft" flüsterte ich glücklich und lachte kurz auf.
Mein Hungergefühl war ebenfalls vorerst abgeebbt. Prüfend fuhr ich mir über das Gesicht und hielt meine Finger vor mich. Nur eine kleine Menge an Blut verfärbte sie dieses Mal. Vielleicht musste ich kein Monster sein. Der Gedanke brachte mich zum lächeln. Das Konsumieren von Blut war weiterhin befremdlich für mich, doch es wurde besser. Die Tatsache, dass das kleine Tier überlebt hatte, erfüllte mich mit Hoffnung. Ich warf einen Blick auf die Öffnung der Höhle und stellte enttäuscht fest, dass meine Idee eines Sichtschutzes nicht ideal war.
Die Äste waren teils umgefallen und es war klar erkenntlich, dass sie nicht dorthin gehörten. Seufzend erhob ich mich und atmete tief ein. Die Waldluft roch wundervoll. Die Vielfalt der Flora kreierte einen fast süßen Duft, welcher mich mit Ruhe füllte. Es konnte nicht alles auf einen Schlag funktionieren. Fehler waren ein wichtiger Bestandteil des Lernprozesses und ich würde nicht aufgeben. So sprang ich auf den Felsen und schmiss die Äste zurück in den Wald. Ich würde einfach alles ans Ende der leicht nach links gehenden Höhle platzieren, entschied ich. So würde ich auch so außer Sichtweite bleiben.
Den Rest des Tages verbrachte ich mit Essen und lesen. Das Buch über Pflanzenkunde war erstaunlich interessant und so las ich bis tief in die Nacht, bis ich von einem lauten Knurren überrascht wurde. Panik breitete sich für einen Moment aus, bevor ich etwas wichtiges bemerkte. Der Großteil der Tiere würde den Fels nicht hochklettern können. Das inkludierte den Wolf im Wald. Trotzdem fing mein Herz an schneller zu schlagen und meine dunkle Seite versuchte aktiv zu werden. Der Jagdtrieb würde wohl trotz gestilltem Hunger bleiben, seufzte ich.
Die restliche Nacht versuchte ich mein Bestes, die Geräusche des Waldes zu ignorieren und las weiter das Buch. Es war unglaublich praktisch, dass ich kein Licht benötigte. Ein Mensch würde in der Höhle nichts sehen können, und doch konnte ich problemlos die kleine Schrift entziffern. Es war Zeit die positiven Aspekte meiner weiter unerklärlichen Veränderung zu würdigen.
Diese neue Viktoria war stärker und das lernte ich zu schätzen.
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Schatten der Vergangenheit - Viktorias Vermächtnis
FantasyIm Jahr 1903 ist Viktoria eine 20 jährige Abnormität. Sie ist nicht verheiratet und träumt von einer Welt, in der sie frei leben kann. Dann platzt ihrer Mutter der Kragen und sie wird prompt an einen Mann verheiratet, der unter seiner Maske von Char...