Kapitel 11 - Monster

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"The scariest monsters are the ones that lurk within my soul" - Edgar Allan Poe

Die letzte Nacht hatte ich nicht schlafen können. Ich hatte es mir auf dem Sessel vor dem Fenster bequem gemacht und beobachtet, wie der Sonnenaufgang den neuen Tag ankündigte. Leise drang das Zwitschern der Vögel zu mir und sanft lächelnd schaute ich auf den zunehmend heller werdenden Himmel.

Ein Gefühl von Erschöpfung oder Müdigkeit hatte sich weiterhin nicht breit gemacht, doch so langsam wurde ich hungrig. So erhob ich mich langsam, um mich einzukleiden.

Nun ein dunkelgrünen, mit filigranem Muster besticktem Kleid tragend, begab ich mich in das große Esszimmer. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass es gerade 8 geschlagen hatte. Das Frühstück war bereits vorbereitet, und so nahm ich wie zu jeder Mahlzeit meinen Platz links vom Kopf des langen Tisches ein. Wie alles in diesem Haus war auch dieser Raum elegant eingerichtet, Willfrieds Reichtum für jeden erkenntlich.

Er genoss es, Erstaunen und Neid in den Gesichtern seiner Gäste zu sehen. Jeder sollte wissen, wie gut es ihm erging, welchen Erfolg sein Unternehmertum ihm brachte.

Nachdenklich nahm ich geschnittenes Stück Apfel in die Hand und hielt es vor mich. Nichts. Ich roch experimentell an dem Obst, doch auch das löste nichts ungewöhnliches aus. Also öffnete ich langsam meinen Mund und biss ab. Während des Kauens bemerkte ich fasziniert, dass der Geschmack viel intensiver als normal schien.

Lag es an dem Apfel, oder hatte sich auch mein Geschmackssinn signifikant gesteigert? Grübelnd blickte ich mich auf dem Tisch um und entschied mich für ein Stück Brot. Auch das aß ich ohne Probleme. Glücklich darüber, dass anscheinend wenigstens in der Hinsicht alles gleich geblieben war, führte ich mein Frühstück wie gewohnt fort und lehnte mich danach nachdenklich im Stuhl zurück. Das Hungergefühl, welches ich zuvor als normal abgetan hatte, war nicht abgeebbt.

Hatte sich mein Appetit etwa ebenfalls erhöht? Ich nahm mir ein weiteres Stück Brot, doch auch das brachte nichts. Was, wenn der Hunger nach etwas anderes, als Lebensmittel war? Der Gedanke ließ mir einen Schauder über den Rücken fahren. So leichtsinnig ich das Bluttrinken gestern Nacht genommen hatte, löste es jetzt ein Wirrwarr an Gefühlen aus.

Ich war wirklich ein Monster, dachte ich betrübt.

Doch aus Angst und Ekelgefühl geleitet zu agieren, war in diesem Fall nicht sinnvoll. Rational betrachtet, wusste ich das. Auch wenn leider nichts an meiner aktuellen Situation logisch wirkte, versuchte ich dennoch, den Verstand über meine Emotionen zu stellen. Es verängstigte mich darüber nachzudenken, wie sehr ich mich mental verändert hatte.

Früher war ich zumeist von Neugier und idealistischen Träumereien geleitet worden, dann durch das Hinzufügen der Variable Willfried waren meine Gefühle vorallem von Angst und Unsicherheit dominiert worden. Logik und Emotionen gingen mehr oder weniger Hand in Hand, wobei die negativen Gefühle die Waage in ein Ungleichgewicht brachten. Jetzt schien ich ständig zwischen zwei Zuständen zu pendeln. Radikale Rationalität und Überemotionalität. Gestern Nacht war der logische Teil primär aktiv gewesen, doch in diesem Moment regierten mich meine Gefühle.

Seufzend erhob ich mich und wanderte gemächlich in Richtung des Gartens. Dann fiel mir Maria wieder ein und ich drehte mich um, um zur Küche zu gelangen. Ging es ihr gut? Ich hoffte meine Beeinflussung hatte keine Schäden bei ihr angerichtet. Am Raum angelangt beobachtete ich sie zunächst durch die angelehnte Tür. Sie war dabei das Geschirr zu spülen, still wie immer. Ihr Rücken war mir zugekehrt, weshalb ich zögernd die Küche betrat und mich räusperte.

Sie machte schnell ihre Hände frei und trocknete sie an der Schürze ihrer schwarzen Uniform ab, während sie sich umdrehte. Ihre Augen sahen mich wie immer emotionslos an, es schien auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein. Doch dann erblickte ich aus dem Augenwinkel etwas rotes und richtete meinen Blick schnell auf ihre rechte Hand. Die Haut dort war gerötet und Blasen zierten ihre helle Hand. Schockiert traf ich ihren Blick.

„Was hast du mit deiner Hand gemacht?" fragte ich schnell, worauf sie konzentriert die Wand hinter mir fixierte und dann verwirrt ihren Kopf schüttelte. „Nur ein kleiner Unfall, Frau Eckhard. Ich muss wohl gestern an das kochende Wasser gekommen sein"

Entgeistert starrte ich auf ihre verbrannte Hand. Ihrem Auftreten nach zu urteilen schien sie sich nicht an gestern Abend zu erinnern, das war gut. Doch die Verletzung nagte an mir. Es war meine Schuld, dass sie sich verbrannt hatte. Schnell wünschte ich ihr gute Besserung und verließ ruckartig den Raum, um eilig in den Garten zu gehen. Meine Atmung wurde zunehmend schnappartiger, ich brauchte Luft. Dort angelangt setzte ich mich auf die Stufen und starrte abwesend auf den Boden.

Tief durchatmen, dachte ich. Doch es half nichts, die Panik drückte meinen Brustkorb zusammen und hielt mich schmerzhaft davon ab, Sauerstoff in meine Lungen zu befördern. Ich war am Hyperventilieren, hörte ich eine entfernte Stimme in meinem Kopf. Alles drehte sich. Panisch richtete sich mein Blick auf den Wald. Alles in mir schrie nach Flucht, ich musste hier weg. Hastig stand ich auf und rannte zu den Bäumen. Ich lief immer weiter.

Weg. Weg. Weg. Es war alles, an was ich denken konnte. Tränen stiegen mir in die Augen und als ich an einer Lichtung ankam, stoppte ich endlich und fiel weinend auf die Knie.

Die Verbrennungen an Maries Hand waren das letzte Tröpfen gewesen, welches das Fass zum überlaufen gebracht hatte.

„Oh Gott" flüsterte ich panisch. Ich hatte einen Jäger und ein Reh getötet. Dann hatte ich eine unschuldige Bedienstete in meine Machenschaften involviert und sie beeinflusst, für mich die Beweise zu entfernen. Monster. Der Gedanke hallte immer wieder in meinem Kopf wieder. Ich war eine Mörderin. Ein wahres Monster. Wie konnte ich Willfried für seine Machenschaften verurteilen, wenn ich viel schlimmeres getan und vielleicht wieder tun würde.

Ein lautes Schluchzen entwich mir. Zitternd atmete ich ein und hielt mir erschrocken die Hände vor mein Gesicht. Blut, dachte ich panisch. Warum roch ich Blut?

Ich spürte wie meine Zähne spitzer wurden und schrie frustriert auf. Nein, ich konnte nicht noch ein Lebewesen wegen meinem monströsen, neu entdeckten Verlangen nach Blut verletzen. Töten.

Wie konnte ich nur vorher gedacht haben, es wäre sinnvoll ein weiteres Tier leerzutrinken, um meine Blutlust besser zu verstehen. Besser, als einen Menschen zu verletzen. Wie emotionslos konnte ich sein? Doch dann wurde der Geruch von Blut stärker und meine Augen schossen reflexartig in die Richtung. Meine Augen schlossen sich und ich spürte, wie der andere Teil die Kontrolle übernahm. Machtlos beobachtete ich, wie ich mich erhob und in die Richtung des Herzschlags schoss.

Innerlich schrie ich unermüdlich, flehte mein inneres Monster an, stehenzubleiben. Doch es brachte alles nichts. Mit sicheren Schritten sah ich, wie ich mich einem verletzten Tier näherte. Ein Wolf, bemerkte ich schockiert. Sein rechtes Hinterbein hing fest und blutete von den Befreiungsversuchen. Er war augenscheinlich in eine Falle getreten, höchstwahrscheinlich durch einen Jäger platziert.

Die Erinnerung an den Fremden, mein erstes Opfer, erlaubte es mir kurz wieder die Kontrolle zu übernehmen und ich drehte mich um. Flach atmend setzte ich alles daran, meine Gedanken weg von dem verletzten Wolf zu halten und konzentrierte mich auf den Geruch der Erde. Schnellen Schrittes entfernte ich mich von dem Tier, doch ein Knurren ließ meinen Blick zurückschnellen.

Ich spürte, wie ich die dünnen Fäden meiner Kontrolle wieder rissen und ehe ich mich versah, hockte ich über dem Wolf. Er versuchte mich mit seinen Krallen zu verletzen und schnappte panisch nach mir, doch es war vergebens.

Schatten der Vergangenheit - Viktorias VermächtnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt