Kapitel 6 - ein kleiner Akt der Rebellion

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Die nächsten Wochen über verfiel ich langsam in eine Routine. Nach anfänglichen Schwierigkeiten beim Kochen und weiteren Blessuren als Konsequenz hatte ich meine Anstrengungen verdoppelt. Als Resultat schwieg mich Willfried nun beim Abendessen an und ignorierte mich wie gewohnt, anstatt mich anzuschreien.

Doch auch wenn ich mich bemühte stets alles nach seinen Erwartungen zu tun, gab es für ihn immer etwas zu bemängeln. Mal war meine Kleidung seiner Meinung nach nicht angemessen, ein anderes Mal kritisierte er meine Ausdrucksweise. So ging es immer. Er fand stets etwas, was ich in seinen Augen falsch machte. Und das, obwohl ich alles tat um eine gute Ehefrau zu sein.

Ich war mittlerweile davon überzeugt, dass Willfried einfach von Grund auf unzufrieden war. Es war egal was ich oder die anderen Bediensteten im Haus taten, nichts entsprach seinen Erwartungen. Er liebte es die Angst in den Augen der Menschen zu sehen, wenn er etwas bemängelte, erfreute sich daran, seine Kontrolle in jeder möglichen Form auszuüben.

Die Nächte waren zum Glück weniger schmerzhaft geworden. Nach der Hochzeitsnacht schien er vorerst seine Aggression ausgelebt zu haben. Mir war allerdings auch bewusst, dass es wahrscheinlich eher daran lag, dass in letzter Zeit des öfteren Besucher ins Haus kamen. Er, ein so ehrenvoller und guter Mann konnte schließlich keine Ehefrau mit Blessuren präsentieren.

Das würde nicht zu der Persona passen, die er der Außenwelt präsentierte. Bisher war ich glücklicherweise davon verschont worden, ein Kind auszutragen. Doch mit den fast nächtlichen Besuchen meines Ehemanns war ich unsicher, wie lange das so bleiben würde. Immerhin waren die Schmerzen nicht mehr so groß wie am Anfang. Der Akt war zwar weiterhin nicht angenehm, aber ertragbar. Traurigerweise war es für mich zu Norm geworden, mit Schmerzen zwischen den Beinen aufzuwachen.

Meine Tage begannen früh morgens. Willfried hatte angeordnet, dass die Bediensteten uns um Punkt 7 Uhr weckten, wonach er seinen Arbeitstag begann. Das Frühstück war stets still. Während er meistens seine Zeitung las, aß ich still und wartete bis er sich zur Arbeit aufmachte. Dann schlenderte ich häufig durch das Haus und las Bücher im Salon. Wenn Willfried da war mochte er es nicht mich lesen zu sehen, also nutzte ich die Zeit.

Es war mir verboten das Anwesen zu verlassen, aber glücklicherweise befand sich ein recht großer Garten hinter dem Haus, welchen ich betreten durfte.

Das tat ich an diesem Tag auch. Die Morgensonne schien hell im Himmel und erwärmte mein müdes Gesicht. Es wurde stetig wärmer, jetzt da der Sommer eingebrochen war. Hinter dem gepflegten Garten befand sich ein Wald, in welchen ich explizit nicht zu gehen hatte. Die Konsequenzen hatte ich Tage später noch gespürt, als er mich einmal dabei erwischt hatte, zu nah am Waldesrand zu stehen.

Heute war ein guter Tag. Willfried würde erst in einer Woche wiederkommen, da er wohl geschäftlich unterwegs war. Ich hatte mir ein freudiges Lächeln verkneifen müssen, als er mir das heute morgen berichtet hatte. Die drei Bediensteten waren im Haus beschäftigt, sodass ich seit Wochen endlich ein kurzes Gefühl von Freiheit spürte.

Ich wusste es war Traumdenken, doch heute würde ich mir das genehmigen. Nur für einen glückseligen Moment. Ein Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht, welches ich schnell wieder absetzte. Gestern hatte Willfried mich mit einem seiner Bücher erwischt, was mir schmerzhafte Konsequenzen für meinen Fehler eingebracht hatte. Meine Wange war leicht angeschwollen und rot. Ich hatte erneut Fingerabdrücke an meinem Hals und zwischen meinen Beinen schmerzte es wie nach der Hochzeitsnacht.

Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Für die nächsten Tage, hoffentlich länger, war ich alleine im Haus und Willfried konnte mich für nichts bestrafen. Er hatte eigentlich geplant mich mitzunehmen, aber wegen meiner Verletzungen hatte er widerwillig entschieden ich solle hier bleiben. Schließlich sollte keiner sehen, wie Viktoria Eckerhard gerade aussah. Der geschätzte, ehrwürdige Willfried Eckerhard würde schließlich niemals Hand an seine geliebte Ehegattin legen.

Ich schnaufte genervt bei dem Gedanken. Er hatte mir unmissverständlich klargemacht, dass mich niemand so zu sehen hatte und dass die Bediensteten bei seiner Rückkehr berichten würden, sollte ich etwas falsch machen. Die Art und Weise, auf die er das gesagt hatte, ließ mir einen Schauder über den Rücken laufen. Ich hatte die dunkle Vorahnung, dass die Konsequenzen gravierender sein würden als das, was ich bisher von ihm erlebt hatte.

Er würde mir unmissverständlich klarmachen, dass ich niemals frei sein würde, auch wenn er vorübergehend auf Reisen war.

Vorsichtig schaute ich zurück zum Haus. Es ragte imposant in zwei Etagen hoch. Das Gebäude war in einem hellen gelb gestrichen, mit grauen Ziegeln bedacht. Zahlreiche Fenster begleiteten die Fassade, welche dem Herrenhaus einen vermeintlich einladenden Eindruck verpassten. Man könnte meinen, die Innenräume seien lichtdurchflutet, doch der Schein trügte. Die schweren Vorhänge waren in den meisten Räumen stets zugezogen, außer es war Besuch da.

Mutter hatte mir mal erzählt, dass Willfried sich aus Gründen der Privatsphäre und Idylle der Natur dazu entschieden hatte, etwas außerhalb der Stadt zu wohnen. Den ersten Teil glaubte ich ihm, er wollte seine Persona um jeden Preis bewahren. Die Idylle der Natur? Unwahrscheinlich. Das einzige Mal, dass ich ihn im Garten gesehen habe, war, als er mich gesucht hatte.

Doch jetzt, als ich prüfend die Fenster des Anwesens begutachtete, stellte ich erleichtert fest, dass ich nicht beobachtet wurde. Die Bediensteten waren wohl gerade anderweitig beschäftigt. Sie hatten wahrscheinlich nicht gesehen, dass ich das Gebäude verlassen hatte. Erleichterten atmete ich auf und drehte mich wieder zum Wald um.

Ich hatte früher mit Vater dort manchmal Spaziergänge gemacht. Er hatte mir die verschiedenen Baumarten gezeigt und erklärt, wie wichtig die Natur für uns war. Einmal nahm er mich sogar zum jagen mit, was später zu einer hitzigen Diskussion zwischen meinen Eltern geführt hatte. Aber ich würde nie vergessen, wie er mir sein Gewehr in die Hand gab und mir zeigte, wie es funktioniert. Er ließ mich frei sein. Dinge lernen, die eine Frau so selten erfahren durfte. An dem Tag hatte ich einen Hasen erlegt, erinnerte ich mich nostalgisch.

Das Tier hatte mir leid getan, als ich es dort lieblos liegen sah. Die Augen des kleinen Wesens glasig. Es war meine erste und bisher einzige direkte Konfrontation mit dem Tod gewesen. Als er sah, wie sehr ich mit den Tränen kämpfte, erklärte Vater mir, dass wir stets die Natur zu respektieren hätten und die Jagd einen wichtigen Nutzen hatte. Seine Aufgabe als Jäger war es, die Wildtierpopulation des Waldes im Rahmen zu halten und so die Balance des Ökosystems intakt zu halten. Es war das letzte Mal, dass Mutter uns zusammen in den Wald gelassen hat und ich würde die Erfahrung immer in Erinnerung halten.

Vater hatte mich stets gelehrt, stark zu sein und meinen Geist nicht sozialer Normen wegen zu verschließen. Immer wissbegierig und bescheiden zu bleiben. Bei dem Gedanken lief mir eine einsame Träne die Wange runter. Ich vermisste die alte Zeit, sehnte mich nach meinem Vater und der Freiheit, die er mir bot. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe rum, während ich den Wald genauer beobachtete. Sollte ich es wagen Willfrieds Anordnungen zu widersprechen? Ein Anflug von Angst breitete sich in mir aus, bevor ich ihn entschieden wegschob.

Ich wollte nicht mein Leben lang in Angst leben, konnte nicht bis zum Tod die unterwürfige Ehefrau spielen.

Zumindest eine kleinen Akt der Rebellion wollte ich mich trauen. Mir beweisen, dass ich nicht das kleine schwache Wesen war, als das Willfried mich sah. Als das ich mich mittlerweile sah. Mit einem letzten prüfenden Blick über meine Schulter versicherte ich mich, dass ich weiterhin alleine war und betrat den Wald. Nur ein kleiner Spaziergang, sagte ich mir. Ein paar Minuten in die Idylle der Natur eintauchen und dann würde ich sofort zurückgehen. Es würde niemandem auffallen, redete ich mir stur ein.

Wenigstens heute würde ich die Angst nicht siegen lassen.

Schatten der Vergangenheit - Viktorias VermächtnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt