„Der größte Feind des Wissens ist nicht die Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein" - Stephen Hawking
Ihr Name war Marie Volker. Immerhin musste ich sie in meinem Kopf nicht mehr Bedienstete nennen, dachte ich erleichtert. Es fühlte sich so falsch an, das zu tun. Überheblich, als wäre ihr Name nicht wichtig. Als wäre sie nicht wichtig, weil sie einen niedrigeren sozialen Stand hatte als ich. Die Gesellschaft war festgefahren, der Wert einer Person bereits bei der Geburt festgelegt. Das Leben war ein gezinktes Glücksspiel, das bereits beim ersten Atemzug eines Neugeborenen seine Zukunft festlegte. Kopfschüttelnd setzte ich mich auf das Bett und verwarf den Gedanken.
Dann dachte ich zurück an meine Situation und unzählige Fragen kamen mir in den Kopf. Ich hatte den Lebenssaft zweier Lebewesen getrunken. Meine Zähne waren nicht scharf genug, um das zu tun. Hatte der Geruch des Blutes sie wachsen lassen? Nachdenklich lief ich in das anliegende Badezimmer und begutachtete mich im Spiegel. Meinen Mund weit geöffnet begutachtete ich meine Zähne. Wie erwartet waren sie stumpf, normal. Menschlich.
Dann dachte ich an den Jäger, die rote Flüssigkeit, die ich ihm entzogen hatte und das Gefühl der Euphorie, welches sich währenddessen in mir ausgebreitet hatte. Mit einer Mischung aus Faszination und Angst beobachtete ich, wie meine Schneidezähne wuchsen und zu messerscharfen Waffen wurden. Testend hielt ich meinen Finger an einen Zahn und zog erschrocken die Luft ein, als er bei der leichtesten Berührung zu bluten begann.
Hatte ich mich noch anders verändert? Der Gedanke an Blut machte mich wieder durstig, aber ich versuchte den Impuls zu jagen zu unterdrücken und prüfte mein Gesicht im Spiegelbild. Meine blauen Augen hatten sich verfärbt, sah ich schockiert. Was war ich? Rubinrote Augen starrten mir entgegen. Verschnörkelte Linien zogen sich durch die Iris.
Ich schloss meine Augen und nahm einen zittrigen Atem. Panik würde mir nicht helfen. Wie ein Mantra wiederholte ich die Worte in meinem Kopf, bis ich langsam wieder normal atmen konnte.
Dann öffnete ich meine Augen und mir blickte mein zuvor so bekanntes Aussehen entgegen. Die langen blonden Haare, blasse Haut... Moment, dachte ich konzentriert. Hatte ich an Farbe verloren? War das Teil meiner seltsamen Verwandlung? Die Veränderung war glücklicherweise minimal. Ich würde die Veränderung problemlos durch zu wenig Sonne begründen können.
Erleichtert atmete ich auf. Meine blauen Augen blickten mir unschuldig entgegen und ich musste ein sarkastisches Lachen unterdrücken. Unschuldig war das letzte, was ich mit mir nach gestern assoziieren würde. Besser passend war monströs.
Mein Hals war weiterhin trocken, ein Gefühl der Dehydrierung machte sich in mir breit und ich sah wie sich durch die blaue Iris langsam rubinrote Fäden zogen. Würde es so für immer sein? Ein ständiges Verlangen nach Blut? Ich warf einen panischen Blick auf die geschlossene Tür des Badezimmers. Was, wenn ich jemanden in diesem Haus verletzte? Was, wenn sich jemand verletzte und ich den Geruch des Blutes wahrnahm?
Mehr Fragen bildeten sich in meinem Kopf. Konnte ich noch normales Essen verzehren? Das würde ich wohl morgen früh herausfinden, dachte ich bedrückt. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Niemand konnte davon erfahren. Das beste Szenario wäre eine Einweisung in das nächstgelegene Sanatorium. Im schlimmsten Fall würde ich unermüdlich verfolgt werden, mein Ableben ihr einziges Ziel.
Was, wenn sie mich als biologische Anomalie missbrauchten? An mir herumexperimentieren. Sie dachten, ich wäre vom Teufel besessen oder ein Dämon. War ich zu einer Kreatur der christlichen Hölle geworden? Nein, dachte ich determiniert. Niemand durfte davon erfahren. Es brachte mir herzlich wenig, unendliche Szenarien in meinem Kopf zu kreieren und mich in Panik zu versetzen. Doch es war unglaublich schwierig es nicht zu tun. Ich wusste nichts über den Grund für meine Vewandlung.
Also was wusste ich? Nachdenklich zählte ich alles auf, was ich in bereits gelernt hatte.
ich hatte Blut getrunken
Präferierte mein innerer Dämon menschliches Blut? Während das des Jägers Euphorie ausgelöst hatte, war das des Rehs scheinbar nur aus Notwendigkeit genug gewesen.
Ich war schneller als jedes Tier der Erde.Vielleicht besaß ich übernatürliche Stärke
Wie hätte ich den Jäger sonst von mir reißen können? Tot oder lebendig, er war schwerer als ich gewesen. Außerdem schien es in dem Moment keine Herausforderung gewesen zu sein, das arme Tier auf den Boden zu befördern und dort zu halten. Definitiv übernatürliche Stärke, stellte ich fest.
Meine Heilung war tausendfach schneller als zuvorIch konnte Personen dazu bringen, meinem Willen blind zu folgen.
Zumindest bei Marie hatte es funktioniert. Vielleicht könnte ich es wagen, es bei jemand anderem zu versuchen?
Bei dem Gedanken an Blut verfärbten sich meine Augen wieder zu einem rubinrot, meine Schneidezähne wuchsen zu messerscharfen Waffen.
Das wichtigste war es nun, dieses Verlangen nach dem Lebenssaft meiner Mitmenschen unter Kontrolle zu bringen. Angenommen, das Konsumieren von Blut würde kein einmaliges Ereignis bleiben, war es essentiell, nicht nochmal in einen Blutrausch zu verfallen. Mein Leben hing davon ab. Und so sehr meine menschliche Seite der erneute Konsum anekelte und verängstigte, ich wusste tief im Inneren, es war nötig.
Sollte ich Marie beeinflussen und von ihr trinken? Nein, dachte ich entgeistert. Der Gefahr konnte ich sie nicht aussetzen. Sie könnte sterben. Dann dachte ich zurück an den Wald. Was, wenn ich meine Kontrolle zunächst mit Tierblut versuchte zu erlangen? Der Geschmack des Blutes hatte offensichtlich nicht so sehr gefallen, trotzdem hatte ich das Reh ohne zu zögern leergetrunken. Es brach mir das Herz daran zu denken, einem unschuldigen Tier das anzutun. Aber es war besser als die Alternative, versehentlich einen Menschen zu töten.
Mit der Idee im Kopf begab ich mich ins Bett und versuchte einzuschlafen. Einige Zeit später atmete ich genervt aus. Egal wie sehr ich es versuchte, das Träumen blieb mir verwehrt. Stattdessen lag ich hellwach unter der schweren Decke.
Frustriert verließ ich das Bett und stellte mich vor das Fenster. Der Nachthimmel war von unzähligen Sternen bedeckt und der Mond schien ein silbernes Licht auf den Garten unter mir. Die Bäume des Waldes warfen einen dunklen Schatten auf den Rasen und verliehen meiner Aussicht mit dem hoch über den Bäumen leuchtenden Mond eine mysteriöse Aura.
Früher hatte ich Angst vor der Dunkelheit gehabt, doch jetzt löste sie bei mir ein Gefühl innerer Ruhe aus. So viel hatte sich in den letzten Wochen verändert, dachte ich reumütig.
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Schatten der Vergangenheit - Viktorias Vermächtnis
FantasíaIm Jahr 1903 ist Viktoria eine 20 jährige Abnormität. Sie ist nicht verheiratet und träumt von einer Welt, in der sie frei leben kann. Dann platzt ihrer Mutter der Kragen und sie wird prompt an einen Mann verheiratet, der unter seiner Maske von Char...