Ich rannte zurück zum Waldrand, um meinen Plan umzusetzen, und blieb dort ruckartig stehen. "Nein", flüsterte ich schockiert. Er konnte nicht zurück sein, doch da stand er. Mit verschränkten Armen stand er auf der Treppe zum Garten und durchlöcherte mich mit seinen wütenden Augen. Mein Herz setzte einen Schlag aus und begann wild zu pochen. "Viktoria" rief er. Seine Stimme war ruhig, die Ruhe vor dem Sturm. "Komm her" automatisch setzte ich mich wieder in Bewegung und stoppte abrupt erneut, die Augen fest verschlossen.
Er löste bei mir so unkontrollierte Angst aus, dass es meinen Magen umdrehte. Auf einem Schlag waren jegliche Fluchtpläne aus meinem Kopf verbannt und alles, was blieb, war Furcht. Ein heißer Atem traf mein Gesicht und ich öffnete erschrocken meine Augen. Wilfried stand nun direkt vor mir. Ich hatte gar nicht gehört, wie er sich bewegt hatte. War ich so tief in meinen Gedanken gefangen gewesen? Meine Emotionen hielten mich in einem eisernen Griff, immobilisierten mich. Seine Finger strichen leicht über mein Gesicht und runter zu meinem Hals.
Dann griff er zu und schnitt mir die Luft ab. Röchelnd und mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Er schüttelte nur enttäuscht den Kopf. "Viktoria. Ich dachte, du hättest gelernt. Dein Handeln hat Konsequenzen. Ich dachte, das würdest du verstehen, Aber ich habe dich wohl überschätzt." Seufzend fuhr er fort.
"Es ist nicht deine Schuld. Als dein Ehemann hätte ich dich besser führen müssen. Dich alleine zu lassen brachte wieder deine kindlichen Träumereien zum Vorschein. Deine naive Vorstellung von Freiheit." Mit seiner anderen Hand strich er mir sanft eine einsame Träne weg, während die andere weiterhin fest um meinen Hals fasste. Meine Gedanken waren von einer Mischung aus Angst und Wut geleitet. Wieder war ich schwach, hilflos und klein. Doch im Vergleich zu vorher spürte ich nun eine Dunkelheit in mir. Mein inneres Monster beobachtete meinen Gegenüber wachsam, bereit zuzuschlagen.
Panisch versuchte ich mich zu befreien, doch Wilfried lachte nur dunkel. "Liebes, du kannst dich nicht befreien. Ich entscheide, was mit dir passiert. Das ist mein Recht als dein Ehemann und daran solltest du dich erinnern. Aktionen haben Konsequenzen und die werde ich dir aufzeigen." Meine Sicht wurde langsam verschwommen, der Sauerstoffmangel schmerzhaft spürbar. Würde mein Leben so enden? Meine Lungen brannten, Tränen liefen mir über das Gesicht. Dann löste er ruckartig seine Hand von meinem Hals und ich fiel nach Luft schnappen zu Boden.
Kraftlos nahm ich mehrere tiefe Atemzüge und versuchte verzweifelt, meinen unkontrollierten Herzschlag zu beruhigen. Wilfried ging vor mir in die Hocke und griff fest unter mein Kinn. "Deine Naivität ist fast schon amüsierend Viktoria. Doch du bist zu sehr von deinen Emotionen geleitet. Schau nur wie dein Körper zittert, wie deine Augen vor Angst aufgerissen zu mir aufblicken. Es ist nicht deine Schuld, sondern liegt in der Natur der Frau. Deshalb sind Männer stärker, wir verfügen über einen logischen Verstand." Er schüttelte den Kopf. "Schau mich nicht so an Viktoria. Ich bin kein schlechter Mensch. Mit der Zeit wirst du verstehen, dass mein Handeln in deinem besten Interesse ist. Lass deine Träumereien los und nimm deine wahre Natur an."
Zitternd erhob ich mich und tat mein Bestes, meine Angst zu unterdrücken. Er seufzte enttäuscht und seine Hand schoss vor, um meine Wange zu treffen. Alles schien in Zeitlupe zu passieren. Ich sah, wie der Arm sich mir langsam näherte und griff instinktiv nach seinem Handgelenk. Schock schimmerte in seinen Augen, bevor er in Wut umschlug. "Was fällt dir ein?" schrie er wütend und versuchte, seine Hand aus meinem Griff zu befreien. Doch meine neu gefundene Kraft hielt ihn davon ab. Ein schockiertes Lachen entfloh mir. Ich war nicht mehr schwach.
"VIKTORIA" brüllte er. Kurz drohte mich die Angst wieder zu beherrschen, doch ich schüttelte abwehrend den Kopf." Shh" flüsterte ich. "Was hattest du gesagt? Emotionen steuern uns Frauen. Zeig mir die Rationalität des Mannes"
Wilfried schaufte entzürnt und durchlöcherte mich mit einem harten Blick.
"Was hast du getan? Warum bist du so stark?" fragte er wütend. "Eine Frau sollte solch eine Kraft nicht besitzen" Mein Blick verdüsterte sich bei dem Kommentar. Während er zuvor eine tiefe Angst in mir ausgelöst hatte, spürte ich jetzt nur Wut. Doch mit der Wut kam das innere Monster und ich spürte, wie meine Verwandlung begann. Schnell stieß ich ihn von mir und mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete ich, wie er mit einem panischen Blick durch die Luft flog und gegen die Hauswand krachte. Willfried sackte bewusstlos zusammen und ich atmete zittrig ein, nur um wieder panisch zu werden. Er hatte sich bei dem Fall verletzt, die Luft nun von dem Geruch von Blut dominiert.
Nein, dachte ich determiniert. Ich würde ihn nicht verletzen. Von diesem Mann wollte ich gar nichts, noch weniger sein Blut. Kopfschüttelnd rannte ich blitzschnell zum Schlafzimmer und packte hastig meine Sachen. Ein Kleid für jede Saison, Haarbürste und Seife, dann meine Hose und das Oberteil. Dann sprintete ich in die Küche und kehrte schnell mit meinen Armen voll haltbarer Lebensmittel und einem scharfen Messer zurück. Alles in die zwei Koffer geschmissen quetschte ich eine Wolldecke und ein Kissen rein und schloss sie hastig.
Schließlich warf ich mir einen dunklen Umhang um und hob experimentell beide Koffer auf. Sie fühlten sich nicht schwerer als ein Buch an, stellte ich fasziniert mit und hielt dann ruckartig inne. Das Buch! Ich rannte in den Salon und suchte hastig danach. Wo war es? Dann sah ich es, hoch oben im Regal liegend und ich sprang hoch, um es zu nehmen. Nach einigen Versuchen hatte ich es geschafft und packte es schnell in den Koffer, bevor ich losrannte und das Haus verlies.
Von Waldrand aus beobachtete ich, wie Willfried langsam zu Bewusstsein kam und sich mit schmerzverzerrtem Blick an den Kopf fasste. Ruckartig drehte ich ich um und rannte tief in den Wald, bevor er mich sehen konnte. Das Zwitschern der Vögel war hier viel lauter und ich lauschte gespannt, während ich schnell an den Bäumen vorbeischoss. Wie zuvor sah ich alles nur verschwommen. Mit dem Blick starr nach vorne gerichtet rannte ich nicht mehr konnte.
Dann hielt ich schwer atmend am Fuße eines Berges an und blickte fasziniert in den Himmel. Die Sonne hatte sich fast nicht bewegt, dachte ich erstaunt. Und doch war ich hier, zahlreiche Kilometer entfernt von Willfried.
Jetzt würde mein neues Leben beginnen.
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Schatten der Vergangenheit - Viktorias Vermächtnis
FantasyIm Jahr 1903 ist Viktoria eine 20 jährige Abnormität. Sie ist nicht verheiratet und träumt von einer Welt, in der sie frei leben kann. Dann platzt ihrer Mutter der Kragen und sie wird prompt an einen Mann verheiratet, der unter seiner Maske von Char...