Am nächsten Morgen wurde Ejahl von hellen Sonnenstrahlen und frischer Luft geweckt. Er legte sich einen Arm über die Augen und krächzte: »Mach die Vorhänge zu.«
»Du wirst es überleben«, hörte er Kematians Stimme neben sich.
Nur ein leises Brummen kam von Ejahl. Vorsichtig öffnete er die Augen, blinzelte, als das helle Licht ihn traf. Kematian saß am Rand des Bettes, ihm abgewandt. Die dunklen Haare fielen ihm über die Schultern, aber mittlerweile trug er wieder seine Hose.
Ejahl schob sich in den Schatten, den Kematians Oberkörper warf. Er hob eine Hand und strich über den Rücken des Raben. Kalt traf die Haut gegen seine Fingerspitzen. Keine einzige Unebenheit durch eine Narbe, kein einziger Makel zeigte sich auf seinem Körper. Jede tiefe Wunde verschwand mit der Zeit, nur das Fluchmal auf seiner Brust blieb.
Ejahl zog sich an ihm hoch und sah ihm über die Schulter. »Was tust du da?« Er kniff die Augen zusammen, um es gegen das Licht besser erkennen zu können. »Nähst du ... die Knöpfe wieder an mein Hemd?«
Als Antwort gab ihm Kematian nur ein Brummen und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Ejahl ließ seinen Kopf auf die Schulter des Raben sinken und schloss die Augen. Nur wenige Atemzüge später – es war ihm noch nicht einmal gelungen, wieder in einen halbschlaf-ähnlichen Zustand zu gelangen – hörte er Kematian sagen: »Hier ist Blut an den Ärmeln.«
Eine Furche bildete sich zwischen Ejahls Augenbrauen. »Ich bin mir sicher, ich würde auf deiner Kleidung auch überall Blut finden. Tragen Leute wie du und ich nicht gerade deshalb schwarz?«
Kematian ging nicht auf die Frage ein. »Du hast in der Nacht gehustet.«
Von dem Dieb kam keine Antwort, sein Stirnrunzeln vertiefte sich nur.
»Und als wir uns geküsst haben, konnte ich Blut in deinem Mund schmecken.« Kematian warf das Hemd, das nun wieder im vollen Besitz seiner Knöpfe war, zur Seite und wandte sich zu Ejahl um, sodass dieser notgedrungen von ihm ablassen musste. »Du stirbst.«
»Das fällt dir früh auf. Ich bin ein Mensch. Am Ende sterben wir alle.«
Kematians Backenzähne mahlten. »Das meinte ich nicht. Ich ...« Er brach ab und wich Ejahls Blick aus.
»Die Tatsache, dass ich nicht ganz gesund bin, ändert nichts«, sagte Ejahl. »Es grenzt an ein Wunder, dass ich noch lebe. Ich habe mein Leben lang damit verbracht, meinen Körper zu zerstören, und nun muss ich unweigerlich den Preis tragen.«
Der Rabe knurrte leise, doch es klang eher halbherzig. Erst nach einigen Sekunden ergriff er wieder das Wort: »Hältst du es für eine gute Idee, hier zu sein? Solltest du dich nicht zurückziehen, fort von den Gefechten, den Kämpfen und den Raben?«
»Denkst du wirklich, dass ich meine Leute allein im Regen stehen lassen würde, während ich irgendwo im Warmen und Trockenen sitze?«
»Nein«, brummte Kematian. »Aber ich würde es mir wünschen.«
Ejahl stieß ein Seufzen aus. »Ich weiß.« Er schloss ihn in seine Arme, eine Hand strich über dessen rabenschwarzes Haar, die andere malte Kreise auf seinem Rücken. »Früher oder später werde ich ohnehin sterben, aber die Zeit, die ich noch habe, will ich in vollen Zügen nutzen.«
Kematian erwiderte die Umarmung und ließ seinen Kopf auf Ejahls Schulter sinken.
»Ich weiß, dass es keine schöne Antwort ist, doch es ist die einzige, die ich habe.« Ejahl löste sich ein Stück von ihm, aber nur, um ihm eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen und sich wieder vor zu beugen, ihn zu sich einzuladen.
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The Tale of Greed and Virtue
FantasyWie viele Frevel verlangt eine Heldentat? Ejahl, der Meisterdieb, wird eines Abends von einem alten Freund mit einem merkwürdigen Anliegen überrascht. Als außerdem noch seine Ziehtochter verschwindet, gerät er an vorderste Front des Krieges zwischen...