Ein Klopfen weckte V aus ihrem traumlosen Schlaf. Erschrocken riss sie die Augen auf und erst einen Moment später bemerkte sie, dass sie sich in der Zuflucht und damit in Sicherheit befand.
Ihr Kopf dröhnte, aber sie richtete sich trotzdem auf. »Herein«, sagte sie und rieb sich die Augen. Ihr Blick war vom Schlaf noch verschwommen.
In einer kurzen Sekunde sah sie ein Bild vor ihrem inneren Auge. Der Fremde aus dem Wald, der auf der Suche nach ihr eintrat.
Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte doch nicht vor einem einzigen Mann, der ihr nicht einmal irgendetwas angetan, sondern nur gruselig ausgesehen hatte, so große Angst haben. Und noch weniger sollte sie glauben, dass er sie verfolgt und gefunden hatte. Das war doch absurd.
Und trotzdem hielt sie instinktiv die Luft an und ließ sie erst wieder entweichen, als Sal eintrat.
»Hey«, begrüßte er sie und versuchte sich an einem Lächeln.
»Hallo«, murmelte sie, ihre Stimme tonlos und kratzig. Er war nicht hier, um ihr gute Neuigkeiten zu bringen. Das erkannte sie in seinen Augen.
»Und?«, fragte V. »Habt ihr etwas gefunden?« Oder jemanden, ergänzte sie in Gedanken.
Sal schüttelte den Kopf. »Nichts. Keine Spur von dem Fremden, von dem Herrenhaus ... oder Dasan.« Er trat an sie heran. Das Holz des Bettes knarzte leise, als er sich setzte.
V presste die Lippen zusammen. Für einige Sekunden saßen sie schweigend nebeneinander, bis sie sagte: »Tut mir leid. Ich hätte besser auf ihn achten sollen.«
»Mach dir keine Vorwürfe«, meinte Sal. »Wenn er losstürmt, dann kann ihn niemand aufhalten. Und ihm wird schon nichts zugestoßen sein. Weißt du, er gehörte einst zu Luanas Bruder, Tavaren Kestrel, dem Herzog von Kastolat, bevor ...«
Er ließ den Satz offen, aber V kannte das Ende. Bevor der Dunkle König ihn umgebracht hatte.
Die Gruppe, der V beigetreten war, hatte sich aus einem Grund zusammengefunden: Jeder hatte jemanden an den Dunklen König verloren und jeder glaubte, dass er weiterhin in dieser Welt wandelte, und wollte ihm seiner gerechten Strafe zuführen.
V war ihr Volk genommen worden.
Luana ihr Bruder, Sal ein guter Freund. Anderen ein Geliebter, ein Kind, ein Elternteil. Es gab kaum eine Familie, die der Dunkle König nicht zerrissen hatte.
Sal seufzte und stand auf. Er wollte sich schon verabschieden, aber V hielt ihn auf. »Warte«, sagte sie. »Du kanntest ihn, nicht wahr?«
Er sah leicht verdutzt zu ihr. »Wen? Tavaren?«
Erst da bemerkte V, dass sie in ihren Gedanken einige Sprünge gemacht hatte, denen Sal nicht gefolgt war. »Den Dunklen König.« Unbewusst hatte sich ihre Stimme gesenkt. »Du kanntest ihn, bevor er ein König war, richtig?«
Obwohl sie schon einige Jahre mit der Gruppe reiste, hatte Sal über seine Bekanntschaft mit ihm kaum mehr als ein Wort verloren.
»Ach, er.« Sal räusperte sich und setzte sich wieder. Er sprach nun ebenfalls leiser. »Ja, ich habe ihn persönlich getroffen und auch ein paar Mal ein Wort mit ihm gewechselt, aber ihn eigentlich kaum kennengelernt. Falls du Fragen hast, dann solltest du dich besser an Luana wenden. Er und ihr Bruder standen sich nahe und es gab Zeiten, da ist er bei ihnen ein- und ausgegangen, als würde er zur Familie gehören.«
»Aber ...« V runzelte die Stirn, »das ergibt doch keinen Sinn. Wenn der Dunkle König und der Herzog sich so nahe standen ... Weshalb hat er ihn dann getötet?«
»Das verstehe ich auch nicht. Mir wurde damals die Aufsicht über Kastolat anvertraut, während Tavaren in den Süden zog, um die Schlacht zu schlagen, die ihn das Leben gekostet hatte. Ich weiß nicht genau, was vorgefallen ist.«
Er stieß ein Seufzen aus. »Aber um solch düstere Themen solltest du dich eigentlich nicht sorgen. Wenn er noch irgendwo dort draußen ist, dann werden wir ihn finden und sicherstellen, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.«
Er warf einen Blick auf V. »Aber, da ich mir schon denken kann, dass du nicht locker lassen wirst, kann ich dir nur sagen: Ich weiß wirklich wenig über ihn. Luana kannte ihn besser. Oder du fragst Ejahl. Ich traue ihm zwar nicht und habe ihm nie getraut, aber er hatte damals«, Sal räusperte sich, »Kontakt zu vielen Leuten.«
V hakte nicht nach, weshalb er das Wort ›Kontakt‹ so seltsam betonte. Stattdessen fragte sie: »Die beiden kannten sich?« Sicher, der König war nicht das Hauptgesprächsthema, wenn sie bei Ejahl war, aber es war doch seltsam, dass er ihn nie mit einem Wort erwähnt hatte.
Sal hüstelte leise. »Darüber redest du besser mit ihm.« Er erhob sich wieder. »Vielleicht ruhst du dich aber erst noch aus, bevor du dich daran machst, die Geheimnisse zu lüften.«
V brummte nur leise. Am liebsten würde sie sofort aufstehen und zu Ejahl rennen, um ihn auszufragen.
»Bis später«, verabschiedete er sich und wandte sich ab, um den Raum zu verlassen. Als er die Tür öffnete, stockte er.
»Was machst du denn hier?«, sagte er. Die Antwort kam nur als Murmeln an Vs Ohr, aber die Stimme erkannte sie deutlich.
Sie sprang aus dem Bett und hastete zur Tür. »Ava?«
Die junge Frau hob den Kopf. Die sonst so aufgeweckten blauen Augen waren glasig, die Wangen feucht und gerötet. Ein Beutel hing über ihrer Schulter.
»Darf ich eine Weile hierbleiben?«, fragte sie. Ihre Hand verkrampfte sich an dem Riemen der Tasche.
»Sicher.« Sal trat einen Schritt zur Seite. Ava schlurfte an ihm vorbei und zu V, wartete aber noch, bis die Tür hinter Sal ins Schloss klickte und fiel ihr dann um den Hals.
Die Tränen hielt sie nicht länger zurück und sie rannen ihr ungehemmt über die Wangen.
»Schon gut«, flüsterte V und erwiderte die Umarmung. Eine Hand legte sie auf das blonde Haar, mit der anderen zog sie Ava an sich.
So verharrten sie einige Minuten, bis Vs Hals schon nass von den Tränen war und der Körper in ihren Armen kein Schluchzen mehr von sich gab.
Erst da lösten sie sich voneinander. »'tschuldigung«, murmelte Ava. Sie wischte sich die Wangen trocken und wich Vs Blick aus.
»Willst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte V vorsichtig.
Ava nickte stumm. Sie ließ den Beutel auf den Boden fallen und setzte sich auf das Bett.
V nahm neben ihr Platz, faltete die Hände in ihrem Schoß und sah zu ihrer Freundin, die nun tief Luft holte.
»Mein ... mein Vater ist ein Attentäter«, brachte Ava hervor, »ein Rabe.« Ihre Stimme zitterte, aber die Worte verließen mit Härte und Bestimmtheit ihren Mund. »Und vermutlich lebt er noch.«
V erstarrte. Raben waren nicht nur irgendwelche Attentäter. Sie galten als die besten und sie besaßen keine Moral, keine Gnade. Wenn sie beauftragt wurden, jemanden umzubringen, dann war dieser mit dem Schließen des Kontraktes eigentlich schon tot.
»Ejahl hat es mir gesagt«, fuhr sie fort. »Ich ... ich dachte, mein Vater wäre tot. Er ist seit Jahren verschwunden und ich habe geglaubt, wenn er noch am Leben wäre, dann würde er doch versuchen, mich zu finden. Und er hätte mich gefunden. Egal, wie oft Ejahl mit mir umgezogen ist, wie oft wir von Stadt zu Stadt gereist sind.«
Sie holte tief Luft. »Ejahl hat gesagt, dass er vielleicht noch lebt und dass er versucht, ihn zu finden und Hinweise auf ihn hat, aber ... er will mit mir nicht nach ihm suchen. Und ... er hat mich die ganze Zeit über angelogen, wenn ich ihn gefragt habe, ob er weiß, was mit meinem Vater geschehen ist. Er hat es mir jahrelang verschwiegen.«
Ihre Worte wurden leiser. »Ich verstehe nicht einmal, weshalb es mich so fertig macht. Eigentlich sollte ich doch froh sein, dass mein Vater lebt und Ejahl es mir überhaupt gesagt hat, aber ... warum erst jetzt? War ich es all die Jahre nicht wert, die Wahrheit zu erfahren?«
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The Tale of Greed and Virtue
FantasyWie viele Frevel verlangt eine Heldentat? Ejahl, der Meisterdieb, wird eines Abends von einem alten Freund mit einem merkwürdigen Anliegen überrascht. Als außerdem noch seine Ziehtochter verschwindet, gerät er an vorderste Front des Krieges zwischen...