Sie landeten in einer Seitengasse Cyrills. V stützte sich an einer Wand ab, ihre Knie zitterten und Übelkeit packte ihren Magen. Ejahl hingegen hatte die Reise kaum beeinträchtigt. Er ließ seinen Blick durch die Straße schweifen und orientierte sich, wo genau sie angekommen waren.
Ein leises Klirren hallte noch nach, aber von dem Erzähler fehlte jede Spur.
Die Sonne erhob sich langsam als roter Halbkreis am Horizont und erweckte nach und nach die Stadt. Bisher drangen kaum Stimmen von der Hauptstraße in die entlegenen Ecken.
»Endlich zurück«, sagte Ejahl und betrachtete den Himmel, in den violett und orange floss mit einem Grinsen. »Dann lass uns mal schauen, wo meine Elstern ein neues Nest gefunden haben.«
V beäugte ihn misstrauisch. Es war ungewöhnlich, dass er so glücklich war. »Was genau ist in dem Fläschchen?«
Sein Lächeln wurde nur noch breiter und sie wusste, dass sie nicht hätte fragen sollen.
»Wenn es dich so interessiert, dann werde ich dir selbstverständlich keine Antworten verwehren«, sagte Ejahl und setzte sich in Bewegung.
V folgte ihm. Auf der einen Seite war sie nicht sicher, ob sie es nun überhaupt noch erfahren wollte, auf der anderen Seite bohrte ihre Neugierde einen Finger in ihren Verstand und bat sie, den Meisterdieb nicht zu unterbrechen. V gab ihr nach.
»Um es zu erklären, muss ich aber ein bisschen ausholen«, fuhr Ejahl fort. »Kematian ist nicht direkt lebendig.«
V runzelte die Stirn. »Wenn er nicht lebt, was ...?« Sie brach ab. Vor einigen Tagen hatte Ejahl ihr schon gesagt, sie solle auf Kematians Zähne achten. Kematian hatte, ohne nachzudenken und ohne starken Widerstand, in sein Handgelenk gebissen, als Ejahl nach dem Angriff auf die Raben verletzt war. Sie hatte Narben an Lloyds Hals bemerkt, die nach Bissen ausgesehen hatten. Es ergab alles einen Sinn, obwohl solche Wesen doch eigentlich nur aus Gruselgeschichten bekannt waren.
»Vampir«, brachte sie hervor.
Ejahl nickte. »Ist es nicht faszinierend, was in den Schatten dieser Welt lebt und von den meisten von uns nur für ein Märchen gehalten wird?«
›Faszinierend‹ hätte sie es nicht genannt, eher ›gruselig‹.
»Vor einiger Zeit berichtete er mir, dass er keinen Herzschlag hat und daher auch in Hinsicht auf gewisse ... Körperfunktionen eingeschränkt –«
Hitze stieg in Vs Wangen und sie wedelte schnell mit den Händen. »So viel will ich nicht wissen.«
»Oh, dabei habe ich doch noch gar nicht wirklich angefangen.« Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Kindes, dem sie sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. »Ich kann es dir auch anhand des Errötens erklären. Das Thema scheint dir näher zu liegen.«
Manchmal hasste sie ihn.
»In Ordnung«, brummte sie und sei es nur, weil er der Einzige war, durch den sie etwas über Vampire erfahren könnte. Zugegeben, Kematian gäbe es auch noch, aber solange es nicht notwendig war, würde sie nicht einmal mit ihm im selben Zimmer sein wollen, geschweige denn ihn nach seinen Körperfunktionen – oder eher den nicht vorhandenen – fragen.
»Ich forschte ein wenig nach«, sagte Ejahl, »und fand heraus, dass Vampire in der Theorie doch erröten könnten, nur er nicht.«
V seufzte leise und ließ es über sich ergehen.
»Es verhält sich nämlich so: Jemand wie er wäre theoretisch in der Lage seinen Blutfluss zu kontrollieren, doch bei unserem lieben Kematian gibt es ein Problem: Er kann nicht direkt etwas fühlen und daher auch keine Reaktion für etwas, das er nicht fühlen kann – und sogar noch nie gefühlt hat –, hervorrufen. Er gehört zu denjenigen, die seit ihrer Geburt schon in diesem Zustand zwischen nicht lebendig, aber auch nicht tot sind. Und dann kam er in sehr jungen Jahren zu den Raben und sie ...« Er räusperte sich. »Das spare ich vielleicht aus. Ich sage nur so viel: Es gibt Gründe für diese Ich-bin-ein-großer-böser-Rabe-und-grummele-die-ganze-Zeit-vor-mich-hin-Art.«
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The Tale of Greed and Virtue
FantasíaWie viele Frevel verlangt eine Heldentat? Ejahl, der Meisterdieb, wird eines Abends von einem alten Freund mit einem merkwürdigen Anliegen überrascht. Als außerdem noch seine Ziehtochter verschwindet, gerät er an vorderste Front des Krieges zwischen...