Kapitel 28

264 10 0
                                    

30. November 2025

Als ich aufwache, spüre ich ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch, das ich zunächst nicht ganz zuzuordnen weiß. Ich gähne und strecke mich kurz, dann setze ich mich auf und sehe mich in unserem Schlafzimmer um. Die andere Hälfte des Bettes ist leer. Felix muss schon aufgestanden sein.
Warum ist er schon aufgestanden? Heute ist Sonntag... glaube ich zumindest. Ich drehe mich zur Seite, trenne mein Handy vom Ladekabel und schaue aufs Display.
Als mein Blick auf das heutige Datum fällt, sackt meine Laune sofort in den Keller. Ah, da kommt das mulmige Gefühl also her. Heute ist das einjährige Jubiläum unserer Trennung.
Obwohl wir die Bedeutung dieses Tages damit ausgelöscht haben, dass wir uns darauf geeinigt haben, unseren Jahrestag weiterhin am 10. Mai zu feiern, fühle ich mich automatisch unwohl.
Sofort kommen Erinnerungen in meinen Kopf zurück, die ich am liebsten für immer vergessen würde. Aber ich kann nicht.
Weil ich schuld daran bin, dass dieser Tag für uns kein gewöhnlicher Tag mehr ist.

Ich schließe meine Augen. Seit zwei Monaten gehe ich jetzt zur Therapie. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich endlich dazu aufraffen konnte, mir einen Therapieplatz zu suchen, aber als ich mich immer öfter dabei erwischt habe, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen und mit einem schlechten Gefühl im Bauch zuhause zu sitzen, während Felix ohne mich in irgendeiner anderen Stadt war, um aufzutreten, ging es nicht mehr anders. Ich habe diese ekelhaften Gefühle in meinem Bauch und die noch ekligeren Gedanken in meinem Kopf nicht mehr ausgehalten.
Als die zynische Stimme in meinem Kopf so laut wurde, dass ich eines Abends von einer Panikattacke heimgesucht wurde und heulend auf dem Boden unseres Wohnzimmers gekauert habe, wusste ich, dass ich etwas ändern muss. Und dann habe ich mich an das Gespräch zurückerinnert, das Felix und ich damals in Amsterdam geführt haben.

Ich geh zur Therapie. Du nicht, oder? - Nein, ich nicht. - Würd ich dir aber empfehlen. Also, nicht wegen mir, sondern wegen dir. Ich glaube, es würde dir gut tun, mit einem Profi über deine Ängste zu sprechen. Glaub mir, das ist gar nicht so übel, wie man denkt.

Natürlich hatte er Recht behalten. Als Felix an dem Abend nach Hause gekommen ist und mich heulend auf dem Fußboden vorgefunden hat, haben wir danach lange geredet. Sehr lange sogar.
Das Ergebnis davon war, dass ich am nächsten Tag direkt sämtliche Therapeutinnen in der Gegend abtelefoniert habe. Mir war es wichtig, mit einer Frau über meine Probleme zu sprechen, vor allem aufgrund des Ursprungs meiner Angst.
Eine davon hat mir direkt einen Termin für ein Erstgespräch angeboten.
„Falls das nicht klappt, sag mir Bescheid, dann ruf ick da an. Ich hab genug Geld, um dir einen Therapieplatz zu erkaufen, wenn's sein muss", hatte Felix gesagt, aber im Endeffekt war das gar nicht nötig gewesen.
Ich habe auch so einen Therapieplatz bei Frau Dr. Seidlinger bekommen.

Jetzt sitze ich mit geschlossenen Augen auf meinem Bett, meine Hände liegen flach auf meinen Oberschenkeln. Ich versuche, einen Trick anzuwenden, den meine Therapeutin mir beigebracht hat.
Mein Kopf ist voller negativer Emotionen, die alle mit dem Tag unserer Trennung und den darauffolgenden Wochen verbunden sind. All die Schuldgefühle, der Schmerz, die Abende, an denen ich mich danach in den Schlaf geweint habe und währenddessen gedacht habe, dass ich gar kein Recht darauf habe, traurig zu sein, weil ich diejenige war, die unsere Beziehung beendet hat - all das geht mir jetzt durch den Kopf und strömt von dort durch meinen ganzen Körper.
So weh es auch tut, ich gebe mir Mühe, nichts davon zu verdrängen, sondern alles genau so anzunehmen, wie es gerade kommt. Ein bisschen hat es auch mit einem Trick gemeinsam, den Felix in seiner Therapie gelernt hat: ein Gedanke ist oft nicht mehr als ein Gedanke. Wenn man zu viele davon in seinem Kopf hat, kann man sie einfach annehmen und wieder vorbeiziehen lassen, ohne sie zu bewerten.
So ähnlich verhält sich das jetzt mit all den schlechten Emotionen, die in meinem Kopf und vor allem in meinem Herzen sind.
Als ich die Augen wieder öffne und tief durchatme, merke ich, dass es mir schon ein wenig besser geht. Noch nicht perfekt, aber immerhin besser als vor ein paar Minuten.

Ich atme einmal tief durch, dann schwinge ich meine Beine aus dem Bett und suche die Wohnung nach Felix ab. Ich finde ihn in der Küche, wo er gerade den Esstisch deckt.
Aus dem Augenwinkel glaube ich, zu erkennen, dass er frische Brötchen und Croissants aus einer Bäckerei-Tüte holt und in einem Korb drapiert. Ich muss grinsen.
Kurz genieße ich die Tatsache, dass er mich nicht bemerkt und beobachte ihn dabei, wie er den Tisch mit solch einer Hingabe deckt, als würde er Besuch vom englischen Königshaus erwarten, erst dann mache ich mich bemerkbar.
„Guten Morgen."
Felix dreht sich mit der Tüte in der Hand zu mir um und lächelt mich an. „Da ist sie ja, meine Langschläferin."
Er legt die Tüte auf dem Tisch ab und kommt auf mich zu. Als wir voreinander stehenbleiben, nimmt er mich sofort in den Arm und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Gut geschlafen?", flüstert er und lächelt mich an. Ich versuche, sein Lächeln zu erwidern, aber es gelingt mir nicht so, wie es sollte. Kurz erwidere ich seinen Blick, dann stoße ich ein Seufzen aus.
„Geht so." Felix legt fragend den Kopf schief. „Warum?"
Nochmal seufze ich und weiche seinem Blick aus, dann sehe ich ihn wieder an. Ich schlucke kurz.
„Bin nicht so gut aufgestanden", sage ich leise. „Weil... heute... also, du weißt schon. Vor einem Jahr, da..."
Ich muss den Satz nicht zu Ende sprechen. Felix weiß sofort, was ich meine. Er seufzt ebenfalls kurz auf, dann schlingt er seine Arme wieder um mich. Diesmal drückt er mich noch fester an sich als vorhin. Er streichelt mir behutsam über den Rücken, dann verteilt er immer wieder Küsse auf meiner Wange, an meinem Hals und hinter meinem Ohr, bis ich kichere.
„Ich weiß", murmelt er, „und ich versteh dich. Aber wir denken einfach gar nicht mehr daran, okay? Es ist passiert und wir können es nicht mehr ändern, aber was wir machen können, ist, dem Tag eine neue Bedeutung zu geben."
Er macht einen Schritt zurück und lächelt mich an, während er mir aufmunternd über den Oberarm streichelt. „Wir machen uns einen schönen, entspannten Tag zu zweit, ja? Worauf hast du heute Lust?"
Obwohl mir noch vor zehn Minuten kein bisschen danach zumute war, kann ich jetzt nicht mehr anders, als sein Lächeln zu erwidern. Ich bekomme eine Gänsehaut und fahre mir hastig über die Arme. Kurz muss ich nachdenken, dann nicke ich mit dem Kopf zu dem bunt gedeckten Frühstückstisch hinter ihm.
„Ich würde sagen, wir starten mal damit." Felix lächelt mich an und nickt. „Und dann... wie wär's mit einem gemütlichen Spaziergang durch Berlin? Nicht hier in Kreuzberg, sondern irgendwo, wo's schön ist. Durch's Grüne."
Felix nickt nochmal. „Wird gemacht. Weiter?"
Wieder muss ich überlegen. „Tja, und dann... oh! Weißt du, worauf ich mal wieder richtig Bock hätte?"
Felix schüttelt den Kopf. „Worauf?"
„Auf so einen richtig spießigen Wellness-Tag. So spießig, dass man Sekt im Pool trinkt und so richtig schlimme Seiden-Bademäntel bekommt. Und mit einem Sauna-Besuch."
Ich grinse ihn breit an und schließe die Lücke zwischen uns, indem ich meine Hände in seinem Nacken verschränke.
„Und danach kannst du mich von mir aus in aller Ruhe auf der Rückbank deines Autos durchvögeln."
Felix lacht lauthals auf und schüttelt kurz den Kopf, dann küsst er mich voller Hingabe.
Ein paar Sekunden lang genießen wir das Gefühl unserer Lippen, bis wir uns voneinander lösen und Felix mich verschmitzt angrinst. Er nimmt seine Arme von mir und tut so, als würde er etwas auf einem Notizblock notieren, dann nickt er und grinst mich an.
„Wird alles erledigt, wie die Prinzessin es will. Sonst noch Wünsche?"
Ich schüttele lachend den Kopf. „Nee. Sonst passt alles."
Reflexartig greife ich nach dem Anhänger meiner Kette, die ich noch nicht mal zum Schlafen ausziehe. Es beruhigt mich immer wieder aufs Neue, mit dem Finger über die Gravur zu fahren, so auch jetzt.
Ich lächele Felix glücklich an. „Die Hauptsache ist, dass du bei mir bist."
Felix erwidert mein Lächeln und gibt mir einen Kuss auf die Stirn, dann zieht er mich wieder in seine Arme und legt dabei seinen Arm so schützend um meinen Kopf, als würde er mich von einer sich nähernden Bombe abschirmen wollen.
„Bin ich, Baby. Immer."

Honestly (Felix Lobrecht) (Heavenly #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt