Kapitel 9

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Nachdem ich das Gespräch wochenlang vor mir hergeschoben und mit aller Kraft zu vermeiden versucht habe, bin ich jetzt umso erleichterter darüber, dass wir es endlich geführt haben.
Auf die Tatsache, dass wir dafür erst verpatzten Sex haben mussten, hätte ich zwar verzichten können, aber abgesehen davon könnte Felix seitdem kaum aufmerksamer sein.
Jeden Morgen steht er mit mir um 06:30 Uhr auf, obwohl er es nicht müsste und setzt sich an den Laptop. Ich bekomme täglich während meines Arbeitstages immer wieder Nachrichten von ihm, in denen er mir erzählt, was er alles schon erledigt hat und wenn ich abends nach Hause komme, wartet er manchmal schon mit gedecktem Tisch und fertigem Essen auf mich. Manchmal kochen wir zusammen oder bestellen uns einfach Pizza.
Obwohl theoretisch alles ganz genauso ist, wie ich es mir vorgestellt habe, merke ich, dass Felix eine gewisse Anspannung in sich trägt. Er gibt sich zwar größte Mühe, sich davon nichts anmerken zu lassen, aber ich merke es trotzdem. Aber natürlich erwähne ich es ihm gegenüber nicht.
Er gibt sich so viel Mühe für mich, dass ich ein schlechtes Gewissen dabei hätte, ihm zu sagen, dass ich genau merke, dass sein neuer Tagesrhythmus ihm einiges an Selbstdisziplin abverlangt, die ohne mich nicht nötig wäre.
Nicht mehr lange, denke ich mir. Bald ist auch diese Phase überwunden und dann geht es wieder bergauf. Ganz bestimmt.

Seit dem besagten Abend haben wir nicht mehr versucht, miteinander zu schlafen. Ich weiß nicht, ob Felix Hemmungen davor hat, aber ich habe sie auf jeden Fall. Noch nicht mal auf Masturbation habe ich Lust. Ich fühle mich wie eine verdammte Versagerin.
Dabei habe ich diesen wundervollen, gut aussehenden, perfekt gebauten und extrem aufmerksamen Freund, der mich jeden Abend in seinen Armen hält und mich streichelt, bis ich einschlafe und trotzdem schrecke ich davor zurück, Sex mit ihm zu haben.
Und das nur aus Angst davor, dass sich das von neulich Nacht wiederholen könnte.
Dabei war es vermutlich einfach nur ein Einzelfall, ein Abend von vielen. Schließlich ist mir sowas vorher auch noch nie passiert.
Mit meinen Exfreunden ist es durchaus schon vorgekommen, dass es mal ein wenig unangenehm oder ganz leicht schmerzhaft war, aber noch nie mussten wir vorzeitig abbrechen. Ich bin nicht immer gekommen, aber zu Ende geführt haben wir es immer.
Dabei weiß ich ganz genau, dass die Art, wie Felix und ich es gemacht haben, die einzig richtige ist. Sobald jemand Schmerzen oder weniger Lust hat, sollte man aufhören, anstatt es krampfhaft zu Ende zu bringen.
Trotzdem kommt es mir so vor, als hätte ich etwas falsch gemacht. Ich habe ihn hängen lassen.

Als wir jetzt im Auto sitzen und zur Standup 44-Weihnachtsfeier fahren, entfährt mir ein leises Seufzen. Felix dreht sofort das Radio leiser und schaut mich von der Seite an.
Sein Mundwinkel hebt sich ganz leicht.
„Alles okay?" Ich nicke schnell und lächele ihn vorsichtig an. „Denke schon. Ich bin nur irgendwie aufgeregt."
Felix lacht leise auf und schüttelt den Kopf. „Musst du nicht sein, glaub mir, die sind alle cool. Meinen Bruder kennst du ja und Nadja und Quynh hast du ja auch schon ein paar Mal gesehen. Mit Kinan und Daniel wirst du ganz schnell ins Gespräch kommen und Filiz ist sowieso die Meisterin des Eisbrechens."
Unweigerlich muss ich lachen. „Kannst du dich noch an meine Eisbrecher-Fragen erinnern, ganz am Anfang, als wir uns gerade erst kennengelernt haben?"
Felix muss ebenfalls lachen und verdreht die Augen. „Oh ja. Von Exfreundinnen über Pizza und Sushi bis zu der Frage, wie oft ich pro Woche masturbiere, war da allet mit dabei."
Ich falle in sein Lachen mit ein, spüre aber sofort einen Stich in der Magengrube. Das ist das erste Mal seit Wochen, dass einer von uns beiden irgendwas, was in die Richtung dieses Themas geht, auch nur erwähnt. Fieberhaft überlege ich, ob ich es ignorieren oder ansprechen soll, dann entscheide ich mich für zweiteres.
„Mir tut das übrigens leid", sage ich kleinlaut. „Das von neulich Nacht, meine ich. Das... ich hätte das... also, das hätte so nicht laufen dürfen."
Felix verstummt. Ein paar Sekunden lang starrt er nur geradeaus, bis er mich wieder von der Seite anschaut.
„Was genau?"
„Hm?"
„Was genau tut dir leid?" Pause. „Dass du irgendwie nicht in Fahrt gekommen bist oder dass du nichts gesagt hast?"
Mein Herz verkrampft sich. Ich weiß, dass es darauf nur eine richtige Antwort gibt und er weiß es auch. Nur deshalb stellt er mir diese Frage.
„Dass ich nichts gesagt habe."
Felix nickt zufrieden. Dann nimmt er eine Hand vom Lenkrad und legt sie in die Mittelkonsole. Automatisch greife ich danach und verschränke unsere Finger miteinander.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und auch Felix stößt ein leises Seufzen aus.
„Ich möchte, dass du mir sowas in Zukunft sagst, okay? Sag einfach: Felix, warte bitte, mir geht das zu schnell, ich brauch noch einen Moment. Dann warte ich oder mache langsamer. Aber wenn du gar nichts sagst, kann ich nicht wissen, ob du noch länger brauchst oder nicht."
Er löst seine Hand aus meiner und fährt sich damit durch die Haare. „Hat sich nicht so geil angefühlt für mich. Dass meine Freundin offensichtlich weniger scharf war als ich, aber nichts sagt, um mir den Spaß nicht zu versauen." Die letzten sechs Worte spuckt er beinahe aus und ich bekomme eine Gänsehaut, aber keine von der guten Sorte.
„Dann hab ich lieber keinen Sex, ganz ehrlich."
Das ist also der Grund dafür, dass in den letzten Wochen nichts gelaufen ist. Er hatte genauso wenig Lust darauf wie ich.

Ich schaue aus dem Fenster und schaue Berlin dabei zu, wie es an uns vorbeizieht, während wir der Location der Weihnachtsfeier, die ein bisschen außerhalb der Stadt liegt, immer näher kommen.
Ich weiß nicht, wie ich Felix' Worte einordnen soll. Einfühlsam? Besorgt? Oder doch einfach nur enttäuscht?
Als ich merke, dass meine Gedanken anfangen, sich im Kreis zu drehen, beschließe ich, es sofort anzusprechen. Nie wieder will ich mir selbst vorwerfen müssen, dass wir unsere Probleme schneller hätten lösen können, wenn ich sie einfach nur früher angesprochen hätte.
Und erst recht nicht heute.
Ich räuspere mich, ehe ich ihn wieder anschaue. „Wie meinst du das?", frage ich kleinlaut.
„Also... bist du irgendwie... sauer oder so?"
Felix stößt ein Schnauben aus, das eher frustriert als genervt klingt und schüttelt den Kopf.
„Ich bin nicht sauer, Maddie. Ich bin einfach gestresst, okay? Ich meine, die Tour, der Ticketvorverkauf, einmal pro Woche Hack aufnehmen mit dem Anspruch, möglichst lustig zu sein, obwohl mir eigentlich nicht danach ist, und noch dazu hab ich Probleme mit meiner Freundin, weil ich abends keine Zeit für sie habe und im Bett noch nicht mal checke, dass ich nicht genug auf ihre Bedürfnisse eingegangen bin. Das alles in Kombination -" er macht eine vage Handbewegung - „ist ein riesiger Kopffick. Ich meine... Fuck, selbst wenn alles andere scheiße war, bumsen ging irgendwie immer."
Er verzieht die Mundwinkel zu einem leichten Grinsen und auch ich kann ein leises Lachen jetzt nicht mehr zurückhalten.
Kurz denke ich über seine Worte nach, dann nicke ich langsam. „Verstehe ich. Meinst du denn... das wird irgendwann wieder besser?"
Jetzt greift Felix wieder nach meiner Hand und lächelt mich breit an, dann nickt er.
„Ganz sicher wird es das, Babe." Als er an einer roten Ampel zum Stehen kommt, lehnt er sich näher zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Schläfe.
„Jetzt gerade ist alles einfach irgendwie zu viel, aber wir schaffen das zusammen, okay?"
Ich nicke ein wenig halbherzig und gebe ihm einen flüchtigen, aber deswegen nicht weniger leidenschaftlichen Kuss auf den Mund, bevor die Ampel grün wird und er weiter fährt.
Keine zehn Minuten später sind wir an der Location ankommen. Vor dem Eingang des Restaurants steht eine Gruppe von Leuten, aber irgendwie ist meine Sicht zu verschwommen, um jemanden zu erkennen. Während Felix langsam auf den Parkplatz fährt, hebt er eine Hand zum Gruß und lächelt ihnen freundlich zu.
„Guck, da vorne ist Julian, neben ihm seine Freundin, dann Nadja und Qunyh und daneben Filiz und ihr Freund." Seine Stirn legt sich in Falten. „Kinan, Daniel und Marvin sollten noch kommen, aber wir sind auch ein bisschen früh."
Er legt den Arm um meine Kopfstütze, um rückwärts einzuparken, dann zieht er die Handbremse fest. Er nimmt sich einen kurzen Moment Zeit, um mir ein Lächeln zuzuwerfen und mir nochmal einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Dann greift er nach meiner Hand und drückt sie fest.
„Bereit?"
Ich merke, wie sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten Schmetterlinge in meinem Bauch bemerkbar machen und lächele ihn zufrieden an, bevor ich schließlich nicke.
„Sowas von bereit."

Honestly (Felix Lobrecht) (Heavenly #2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt