6/Etwa die Wahrheit?

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Ende September 2008

Matthias

Wo ist deine Mami jetzt, Matze-Glatze?", höhnt Ben, als ich aus der stinkigen Kabine der Jungentoilette, komme.

Ich hätte es mir denken können, dass er noch hier ist. Dabei habe ich fast eine halbe Stunde in diesem Miefloch ausgeharrt und dafür sogar Bio geschwänzt. Herr Geiger nimmt mir das aber sowieso nicht übel, im Allgemeinen sind im Moment so ziemlich alle Lehrer sehr freundlich zu mir und nehmen mir eine vergessene Hausaufgabe oder einen verpassten Unterricht nicht allzu übel. Ich werde dafür nicht einmal ins Klassenbuch eingetragen.

Papa hat es meinen Geschwistern und mir, frei überlassen, ob wir schon wieder in die Schule gehen möchten oder nicht. Und am liebsten wäre ich noch weitere drei Wochen zuhause geblieben, wenn da nicht Frida wäre, die mir seit den Sommerferien immer mal wieder im Kopf herumspukte.

Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass es mit dem Mobbing so weiter geht, wie vor den Ferien. Zwar haben die meisten von mir abgelassen, als sie von Mamas Tod erfahren haben, was Ben aber nur noch mehr angefeuert hat. Mit Müh und Not hat er die Versetzung geschafft, womit er  jetzt natürlich gegenüber der Mädchen bei jeder Gelegenheit prahlt.

Ich habe keinen blassen Schimmer was Ben gegen mich hat und noch viel weniger weiß ich, warum er es genießt mich am Boden zu sehen. Ich habe es mir nicht ausgesucht, dass Mama stirbt und kann nichts dafür, dass die Lehrer mich gerade als ihren „Liebling", auserkort haben.

„Wo ist deine Mami, Matze? Ist sie etwa im Himmel? Nur zu blöd, dass sie von da oben nicht mehr kommen kann, um dich abzuholen, wenn du wieder anfängst wie ein Baby zu flennen."

Ich spüre das Zittern meiner Hände, das Klopfen meines Herzens, das mir in rasanter Geschwindigkeit gegen den Brustkorb trommelt. Spüre den Speichel, der sich in meinem Mund ansammelt. Verzweifelt versuche ich meinen Körper zu kontrollieren, kralle die Fußzehen in meinem Schuh zusammen und versuche mich auf den daraus resultierenden Schmerz zu fokussieren. Nicht weinen, Matthias. Ben ist es nicht wert. Er hat keine Macht über dich. Zumindest sollte er die nicht haben. Als ich nach Luft schnappe, bricht meine Konzentration in sich zusammen. Hektisch drehe ich mich von Ben weg, damit er die Tränen nicht sieht, die jetzt aus meinen Augen quellen. Meine einzige Fluchtmöglichkeit ist die stinkige Kabine, aus der ich erst vor ein paar Minuten gekommen bin.

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Zuhause erwartet Papa mich schon, als ich nach zwei weiteren Fehlstunden und anschließend einer Doppelstunde Deutsch, dort ankomme.

Er gibt sich seit Mamas Tod ziemlich Mühe uns Kindern seinen eigenen Schmerz und die Trauer nicht zu zeigen. Vor allem wegen Basti, der heute acht Jahre alt wird und ziemlich an Mama gehangen hat. Dafür höre ich Papa oft in der Nacht, wenn ich selbst wach liege und nicht schlafen kann, weinen.

Im ganzen Haus duftet es nach Bastis Geburtstagkuchen, den Tante Isolde gebacken hat. Sie ist Papas Schwester und seit einer Woche hier vorübergehend eingezogen, um uns alle und vor allem Papa zu entlasten.

„Wie war es in der Schule, mein Großer?"

„Gut", murmele ich.

„Geht das auch ein wenig ausführlicher?"

„Es war gut." Ich kann Papa ja unmöglich sagen, dass ich wieder mehr als die Hälfte verpasst habe, weil ich mich im Klo eingeschlossen habe. Und erst recht nichts über die Sache mit Ben.

„Okay, mein Großer. Basti ist im Wohnzimmer und packt gerade Geschenke aus. Er wollte einfach nicht mehr warten, bis alle zuhause sind und ich konnte ihm seinen Wunsch schlecht abschlagen."

Tante Isolde kommt in den Flur gelaufen, in dem Papa und ich noch immer stehen. Sie trägt noch ihre hellgelbe Backschürze, die dunkelblonden Haare sind zu einem ordentlichen Dutt hoch gebunden und ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, das sich in ihren blauen Augen, spiegelt.

„Magst du gleich ein Stück vom Geburtstagskuchen mitessen oder soll ich dir doch lieber noch etwas von der Lasagne aufwärmen, die Basti sich heute als Geburtstagsessen gewünscht hat?", fragt sie mich, während ich in meine Hausschuhe schlüpfe.

„Ich esse gleich ein Stück Kuchen mit."

„Okay, mein Liebling."

Als ich ins Wohnzimmer gehe, packt Basti gerade ein Buch aus, das er ziemlich missmutig betrachtet, ehe er es auf den Stapel zu den anderen Sachen legt.

Ein paar seiner Freunde sind hier und nachdem ich meinem Bruder gratuliert habe, essen wir Kuchen und spielen anschließend noch Verstecken.

Ich bin immer so unkreativ in diesem Spiel und daher einer der Ersten, der gefunden wird.

So helfe ich Kerstin, die anderen Kinder zu suchen, bis Papa mich zur Haustür bittet.

Dort steht Frida, die mich aus ihren rehbraunen Augen unschuldig anschaut, ehe sie auf die Unterlagen schaut, die in Papas Hand liegen. Der ganze Stoff, den ich heute verpasst habe.

„Ich war gerade in der Nähe und da dachte ich, dass ich dir den Stoff, den du heute verpasst hast, vorbei bringe. Da sind auch die Hausaufgaben dabei, die wir aufbekommen haben. Es ist alles notiert."

„Danke, Frida", sagt Papa.

Sie schenkt uns ein letztes, etwas unsicheres Lächeln, ehe sie sich umdreht und dann geht. Ich schaue ihr einen Moment hinterher, bis Papa die Tür zuschmeißt. In seinen Augen glänzt etwas, das ich nicht richtig deuten kann.

„Wenn du heute scheinbar nicht im Unterricht warst... Wo dann, Matthias?"

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, der sich einfach nicht wegschlucken lässt.

Was soll ich jetzt zu Papa sagen? Etwa die Wahrheit?

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