Matthias
„Matthias...Er sollte endlich was richtiges essen... Der Junge besteht praktisch nur noch aus Haut und Knochen. Und immer die Bierflaschen..." Ich will ja gar nicht lauschen, aber die beiden Männer, die sich lautstark auf der Männertoilette unterhalten, sind nicht zu überhören. Ganz klar mein Vater und mein Schwager, Mike. Der menschliche Drang, pinkeln zu müssen, führte mich genau zu diesem Zeitpunkt an diesen Ort und automatisch fühle ich mich in meine Schulzeit, zurückversetzt.
Hauptsächlich war es immer Ben, der sich über mich lustig gemacht hat. Jannick, war anfangs so etwas wie sein Anhängsel und die erste Zeit, erwartete mich ihr Gehänsel überall. Auf der Jungentoilette, im Flur, wenn ich ihnen nicht ausweichen konnte und sogar im Klassenzimmer. Oft war es den Lehrern egal, wenn sie mir blöde Sprüche zuwarfen oder hinter meinem Rücken über mich tuschelten, ein einziges Mal wurde ich von Herr Lauer verteidigt, aber ich glaube, dass hat es damals nur schlimmer gemacht...
Als ob keine Zeit vergangen wäre und ich noch immer der dreizehnjährige Junge, sammelt sich der Speichel in meinen Mund und obwohl ich ihn hinunterschlucke, will er einfach nicht weggehen, im Gegenteil es wird immer mehr und ich weiß, dass meine Stimme mich im Stich lassen wird. Mein ganzer Körper ist zittrig und obwohl mich jedes andere Gefühl in mir drängt, die Toilette nicht zu betreten, habe ich keine andere Wahl. Entweder da rein oder ich nässe mich jede Sekunde hier im Flur, ein.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Tür aufdrücke. Als Mike und Papa mich sehen, verstummen sie sofort. In ihren Gesichtern lese ich Besorgnis, aber auch ganz klar die Erkenntnis darüber, wobei sie gerade erwischt worden sind. Ich sage kein einziges Wort, drücke mich an ihnen vorbei und schließe mich in eine der beiden Kabinen ein. Etwas Nasses läuft über meine Wange und so sehr ich es versuche, ich kann nicht an mir halten. Ein Wimmern kommt aus meinem Mund und ich sacke auf die kalten, dreckigen Fliesen in der Männertoilette.
„Matthias, bitte mach auf." Papa klopft sachte gegen die Kabinentür, die Verzweiflung in seiner Stimme ist mehr als deutlich herauszuhören. „Mike und ich... Bitte, Junge. Wir sind nicht dein Feind. Du musst verstehen, dass wir uns Sorgen um dich machen. Es ist..."
„Frida, sie...", stammele ich und versuche mich etwas zu sammeln. „Ich liebe sie, Papa. Wie soll ich ohne sie weitermachen? Sie war alles für mich..."
„Komm raus, Junge", wiederholt Papa. „Wir werden Wege finden und du bist nicht alleine. Es tut mir leid, dass Mike und ich, wir wollten nicht über dich tuscheln. Aber du musst auch versuchen zu verstehen, dass wir nicht wissen, wie wir dir helfen können. Wir sind deine Familie und wollen doch nur, dass es dir gut geht. Bitte, Junge."
„Sina", höre ich mich wispern. „Könnt ihr sie holen?"
Als sie weg sind, mache ich das, wofür ich eigentlich gekommen bin und bleibe danach still und wieder angezogen, auf dem geschlossenen Klodeckel, sitzen.
„Matthias?", höre ich schließlich Sinas Stimme. „Papa und Mike, sie haben gesagt, dass du mit mir sprechen willst. Was ist los?"
„Sag mir nicht, dass du es nicht längst weiß", gehe ich sie wütend an. „Papa und Mike haben dich ganz sicher eingeweiht, also tu uns beiden bitte den Gefallen und lass das Gesäusel. „Kommen wir am besten gleich zum Eingemachten, oder was meinst du?"
„Magst du nicht rauskommen und wir reden woanders weiter?"
„Eigentlich will ich gar nicht reden", antworte ich, gehe ihrem Vorschlag aber nach und komme endlich wieder aus der Kabine, raus. Solange wie ich manchmal in der Schule ausgeharrt habe, war es zwar nicht, aber ich bin froh, als meine Schwester und ich, wieder im Freien sind. Mit gierigen Zügen trinke ich die frische Abendluft. Ich versuche zu ignorieren, dass Sina mir sehr besorgte Blicke zuwirft.
„Du kannst es gerade vielleicht noch nicht sehen, aber es wird eine Zeit kommen, wo du wieder glücklich sein wirst. Hörst du mir zu, Matthias? Es kann wieder schön werden, irgendwann, auch wenn du es jetzt gerade nicht sehen kannst. Papa und Mike... Du weißt, dass sie es nur gut mit dir meinen, das weißt du, oder?"
„Wenn du das sagst, wird es schon so sein...Du bist die Ältere, Sina." Ich zucke gelangweilt mit der Schulter, zumindest soll es so rüberkommen. In Wirklichkeit will ich eigentlich nur eine Umarmung von meiner Schwester. Aber wenn ich mich dieser hingebe, dann werde ich in ihren Armen in tausend Einzelteile zerbrechen und sie mich versuchen zu trösten. Wenn ich das zulasse, dann werde ich gleichzeitig riskieren, Frida, einen Teil von ihr, ziehen zu lassen und das will ich nicht. Ich bin noch nicht bereit dazu, mein Mädchen gehen zu lassen.
„Was hat das mit dem Alter zu tun?"
„Keine Ahnung", murmele ich. „Wie auch immer, Sina. Können wir wieder rein?"
„Du wolltest mit mir reden", empört sie sich. „Vielleicht solltest du eine Sekunde darüber nachdenken, wie du mit uns, deiner Familie umgehst. Wir alle verstehen deine Trauer und die Wut, aber es ist nicht alles, Matthias. Im Moment fühlt es sich für dich an, als wäre es das Ende der Welt, aber es gibt Hoffnung, du musst uns nur lassen, wenn wir dir helfen möchten."
„Ich kann nicht." Verbissen klemme ich mir die Zunge zwischen die Zähne und rolle die Zehen ein, mit der Hoffnung, dass der Schmerz in meinem Herzen, sich darauf verlagert. „Mit jeder Stunde, die verstreicht, geht ein Teil von Frida und wenn ich... ich mich trösten lasse oder mich eurer Nähe hingebe, dann passiert es schneller. Dabei will ich nicht, dass mein Mädchen nicht mehr an meiner Seite ist. Weißt du, was ich meine?" Mit riesigen Augen, starre ich sie an und obwohl es grausig aussehen muss, blinzelt Sina keine Sekunde und hält meinem Blick stand. „Ich lechze nach deiner Umarmung, am liebsten würde ich Stunden mit Papa und Basti in der Bäckerei verbringen, weil ihr mich mit eure Liebe überschüttet und es das schönste Gefühl der Welt ist. Aber wie kann ich ohne Gewissenbisse Hoffnung haben und glücklich sein, wenn es bedeutet, dass ich Frida damit verliere? Ich kann sie nicht verraten, Sina."
„Du wirst sie nicht verlieren... Hörst du mich, Matthias?" Ich habe den Blick abgewandt und starre jetzt auf meine Schuhe. „Und verraten tust du sie erst recht nicht...Ich verspreche dir, dass du Frida nicht verlieren wirst, wenn du anfängst, ohne sie weiterzuleben. Sie wird immer in deinem Herzen weiterleben, genauso wie Mama."
„Es tut einfach nur so schrecklich weh", wispere ich erschöpft. „Wird es irgendwann besser, Sina?"
„Das wird es. Versprochen. Ehrenwort, kleiner, nerviger Bruder. Und was versprochen ist, bleibt versprochen und wird auch nicht gebrochen."
Ein klitzekleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ehe ich mich versehe, liege ich in den Armen meiner Schwester.
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Spuren deiner Liebe
RomanceMatthias ist sehr glücklich mit seinem Leben. Er hat den Bäckermeister in der Tasche und sich zusammen mit Frida, der Liebe seines Lebens den Traum einer eigenen Bäckerei erfüllt. Die perfekte Idylle. Doch das Schicksal schlägt gnadenlos zu und von...