10/Nur noch Bahnhof

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Elena

„Wie konnte ich nur so unsensibel sein? Nein, ich glaube nicht, dass dieses Wort es beschreiben kann, Nadia... Warum habe ich das mit dem Apfelkuchen gesagt? Ich meine... Wenn mich jemand auf die Lasagne von Armin..."

Ein Schluchzer drückt sich aus meiner Kehle und ich bin versucht mich einzuigeln, was mir aber nicht wirklich gelingt, weil meine Couch schon wieder von Freds Spielsachen, Zeitschriften und sonstigem Kram nur so überquillt. Ich hatte bisher einfach nicht die Laune und auch ehrlicherweise gesagt nicht die Kraft, dieses Chaos zu beseitigen.

„Ich...meine", schniefe ich und wie ein Kind wische ich mir mit dem Ärmel meines dünnen Pullovers über die Nase, was meine beste Freundin mit einem leicht angewiderten Blick zur Kenntnis nimmt, ehe sie wieder auf ihrem Handy herumtippt. „Hörst du mir überhaupt zu, Nadia?"

„Ja", brummt sie sofort.

„Das kann nicht noch schlimmer werden, oder?"

„Ähm...Gib mir eine Minute", nuschelt sie.

„Ich dachte eigentlich, dass du mich beruhigst", murmele ich. „Du hättest sehen sollen, wie der Bäcker auf die Knie gegangen ist, nachdem ich... Und die Schluchzer, die aus seinem Mund kamen. Es war schrecklich, Nadia."

„Ich dachte wir reden über Armins Lasagne..." Sie blickt von ihrem Handy auf und mit hochgezogener Augenbraue schaut sie mich an. „Aber, ich verstehe gerade nur noch Bahnhof."

„Dann hast du doch nicht zugehört", empöre ich mich etwas lauter, bereue das aber sofort, weil ich Angst habe, dass Fred davon wach werden könnte. Er ist nach dem Füttern ziemlich schnell eingeschlafen und ich will mir diesen kleinen Glücksmoment und die Zeit nur für mich, nicht durch einen blöden Leichtsinnsfehler von mir selbst, wieder kaputt machen lassen.

„Ich denke nicht, dass du Schuld bist, dass dieser...Kerl einen Zusammenbruch hatte", sagt meine beste Freundin schließlich schulterzuckend. „Das wäre sicher auch ohne deine Hilfe passiert, Süße. Bist du dir sicher, dass du dir deshalb weiter ein schlechtes Gewissen machen möchtest?"

„Ich weiß doch wie es sich anfühlt", gebe ich zu. „Alleine an Armin zu denken, zerreißt mein Herz in tausend Einzelteile, aber ich habe Fred, an den ich mich klammere, wenn die Traurigkeit Besitz von mir nimmt...Aber der Bäcker..."

„Ich kann ja verstehen, dass du dich sehr für deine Mitmenschen interessierst und außerdem weiß ich genau, wie empathisch du bist, Süße...Aber zerbricht dir nicht weiter den Kopf. Willst du etwa die ganze Zeit mit Samthandschuhen angefasst werden? Stell dir vor, wenn ich dich nur noch in Watte packen würde und alles, was ich mit dir quatschen würde, wäre nur Heuchlerei und Mitleidszeugs... Dingsbums... Ach, du weißt hoffentlich was ich meine. Der Kerl wird's Überleben, da bin ich mir sehr sicher und du wirst irgendwann wieder zu deinem Lieblingsbäcker gehen, auch wenn du dich gerade in Grund und Boden schämst und nie wieder freiwillig dort aufkreuzen möchtest."

Meine beste Freundin hat endlich ihr Handy zur Seite gelegt und ihre blauen Iriden starren mich an.

„Das kann nicht noch schlimmer werden, oder?", frage ich erneut und hoffe einfach, dass sie meine Frage versteht und mich beruhigen kann.

„Süße", sagt sie einfühlsam und reckt sich etwas, um nach meiner linken Hand zu greifen. „Du weißt, dass es im Leben nicht immer nur abwärts gehen kann. Irgendwann geht es auch wieder aufwärts und glaub mir, es ist wirklich dämlich und vielleicht hasse ich das Leben deshalb manchmal, aber alles kommt, so wie es eben kommen muss...Und trotzdem..." Sie seufzt tief. "Nie hätte ich damit gerechnet, dass Armin dich so früh verlassen und Fred quasi als Halbwaise aufwachsen muss..."

„Danke, dass du immer an meiner Seite bist, Nadia", falle ich ihr ins Wort. Sie schaut mich kurz besorgt an, aber dann zaubert sich wie automatisch ein Lächeln auf ihre Lippen. „An manchen Tagen... Nein, öfters auch alle paar Minuten hadere ich mit mir selbst", fahre ich leise fort. Armin und ich, wir haben uns so über meine Schwangerschaft gefreut und als Fred dann da war..." Ich spüre die Tränen, die sich in meinen Augen sammeln und hole tief Luft, wohl um sie fernzuhalten, aber das Gegenteil tritt ein und sie rinnen mir lautlos über die Wangen. „Oft frage ich mich nach dem Warum, aber Fred...Er hilft mir, dass ich mich nicht komplett in meinen Gedanken und der Trauer verliere. Nur leider klappt das nicht immer und ich... Ich fühle  manchmal gar nichts mehr, außer der großen Angst, die tief in mir lauert, die ich aber nicht zulassen möchte."

„Du hast Angst davor, dass du irgendwann einen Fehler machst mit Fred, oder?", hakt meine beste Freundin sofort nach.

„Ich habe...Angst, dass ich nicht genüge", wispere ich. „Es kommt noch so vieles, Nadia. Freds erste Zähnchen, die ersten Schritte, sein erstes Wort sind nur ein paar Beispiele, aber all das, was als Nächstes ansteht. Und das alles ohne Armin, der immer an meiner Seite sein wollte und es auch jetzt sein sollte... Er wird es nie erleben dürfen, Nadia. Keine von Freds Meilensteinen...Und es bricht mir immer wieder das Herz."

„Du schlägst dich wunderbar", tröstet meine beste Freundin mich. „Du bist die beste Mutter für den kleinen Knirps, den er sich nur vorstellen könnte. Deine Liebe ist es, was er braucht. Und an mehr brauchst du vorerst nicht denken, Süße. Es macht dich sonst nur fertig und das lasse ich nicht zu."

„Danke, Nadia."

„Dafür nicht, Süße... Ach ja, wollten nicht Till und Ben morgen Nachmittag vorbeikommen?", fragt sie neugierig und wechselt somit das Thema. Ich bin ihr nicht böse, im Gegenteil eher dankbar, weil meine Stimmung ziemlich im Eimer war. Aber als ich an meine großen Zwillingsbrüder denke, zaubert sich sofort ein Grinsen auf meine Lippen.

„Ja."

„Du bist ja heute wieder seeehr gesprächig", kichert sie. „Meinst du es wäre gut, wenn ich auch aufkreuze oder wird das schon als aufdringlich gezählt? Du weißt schon, wegen der Sache mit Till neulich, als wir uns geküsst haben."

„Ihr habt euch geküsst?" Ich war gerade dabei ein Glas Wasser zu trinken und natürlich läuft mir jetzt etwas davon in den Ausschnitt, weil ich total überrascht bin und vergessen habe zu schlucken. „Warum habe ich das nicht mitbekommen? Wieso hast du nichts erzählt, Nadia?"

Etwas vorwurfsvoll starre ich zu meiner Freundin, die nur grinst und dann mit den Schultern zuckt.

„Es war nur ein ganz kleiner Bussi und das auch nur auf die Wange", gesteht sie schließlich. „Ich wollte es dir ja sagen, aber dann kam Armins Unfall dazwischen und ich wollte nicht..."

„Dann musst du mir jetzt alles erzählen", bitte ich sie. „Ein paar hoffentlich gute Neuigkeiten könnte ich jetzt ganz gut gebrauchen."

Es scheint fast so, als läge Liebe in der Luft!

Und auch wenn ich wehmütig werde und an einen ganz bestimmten Mann denken muss, bin ich auch etwas glücklich.

Und es ist ein wunderschönes Gefühl, von dem ich nicht genug bekommen kann.

Spuren deiner LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt