23/Reich der Träume

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Matthias

„Könntest du heute Leo nehmen?", dröhnt Sinas Stimme aus dem Lautsprecher meines Handys. Eigentlich wollte ich heute einfach mal so richtig ausschlafen und da ich die Bäckerei Sonntags immer zulasse, wäre der Plan auch aufgegangen, wenn ich mein blödes Smartphone auf stumm geschaltet hätte. „Mike und ich, wir haben kurzfristig Karten für Revolverheld geschenkt bekommen, weil Cara und Jens krank sind. Papa ist heute mit Marlene unterwegs und Basti erreiche ich nicht. Bleibst nur du, Matthias."

„Aber nur, weil du es bist, Schwesterherz." Gähnend rappele ich mich auf und schlüpfe mit einer Hand ungeschickt in die Jogginghose, die ich gestern einfach vor dem Bett ausgezogen und dort auch liegen gelassen habe. „Wann bringt ihr ihn?"

„Ich dachte in einer halben Stunde. Wäre das okay?"

„Sag doch gleich, dass ihr ein wenig Zweisamkeit genießen wollt." Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wahrlich kann ich nicht wissen, wie der Alltag mit einem einjährigem Baby aussieht, aber viel Zärtlichkeit zu zweit, ist sicher nicht drin. Unvermittelt schießen mir die Bilder von Elena in den Kopf, als sie vorgestern auf mir thronte. Ich könnte auf der Stelle hart werden, wenn ich nur daran denke.

„Okay, okay", holt mich Sinas Stimme wieder ins Hier und Jetzt. Irgendwie ist es etwas ernüchternd, aber diese Gedanken haben gerade einfach keine Priorität. Eigentlich sollten sie überhaupt nicht in meinem Kopf sein. „Du hast ja recht, aber gegen zwei wollen wir trotzdem los, damit wir auch einen anständigen Stehplatz ergattern. Wäre es okay, wenn der Kleine bei dir übernachtet? Ich weiß, dass es viel ist, Matthias, aber vor elf könnten wir ihn nicht holen und dann ist es auch blöd, ihn wieder aus dem Schlaf zu reißen und dich wahrscheinlich gleich mit."

Das Kinderzimmer, es ist neben dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer, der dritte Raum in meiner Wohnung. Seit Fridas Tod, habe ich es nicht mehr betreten. Zwar steht dort eigentlich überhaupt nichts, außer ein bisschen Spielzeug für Leo und ein zusammenklappbares Reisebett, wo er auch mal schlafen kann. Und trotzdem kostet es mich eine große Überwindung, dort hineinzugehen. Frida hat sich ein eigenes Kind gewünscht und dieser Traum, der auch meiner war, er ist mit ihr gestorben. Ich kann es nicht ertragen, damit konfrontiert zu werden...

„Kann Mike euer Reisebettchen mitbringen, damit Leo einen Platz zum Schlafen hat?"

„Du gehst noch immer nicht in das Kinderzim..."

„Ich nehme den Kleinen, wenn ihr das Reisebettchen mitbringt, Sina", unterbreche ich sie. „Geht das, oder nicht?"

„Okay", höre ich sie leicht bedrückt antworten. „Danke, Matthias. Wir sind dann ungefähr in einer halben Stunde bei dir."

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Ich betrachte meinen Neffen, der tief und fest schläft. Der Kleine war vier Stunden alt, als ich ihn damals nach seiner Geburt, mit Frida im Krankenhaus besuchte. Der Moment, als ich ihn das erste Mal in meinen Armen hielt, er macht mich heute noch glücklich und ich bin dankbar für dieses Licht, das sich verbittert durch die Dunkelheit in mir, kämpft.

Als Leo zwei Monate alt war, passten Frida und ich, das erste Mal ganz alleine auf ihn auf. Einen ganzen Samstag, war er bei uns und fortan wiederholten wir das so oft, wir es konnten. Es war erfüllend, diesem kleinem Menschen, beizustehen und ihm dabei zuzusehen, wie er langsam wuchs, die ersten Laute von sich gab, immer öfters wach war, wenn wir ihn hüteten. Das wohl schönste war der Moment, als er uns sein erstes Lächeln schenkte.

Für mein Mädchen war ziemlich schnell klar, dass sie ein eigenes Baby mit mir wollte. Mir war ziemlich schnell klar, dass ich alles mit ihr wollte, einfach das ganze Programm. Heiraten, eine Familie gründen und zusammenleben, bis wir alt und runzelig im Bett liegen und es unsere Enkelkinder sind, die nach uns sehen.

Die Ernüchterung, dass all das nicht mehr geschehen kann, sie trifft mich immer wieder aufs Neue und lässt mein Herz brechen, das eigentlich längst nur noch aus Scherben bestehen sollte.

Leo dabei zuzusehen, wie er friedlich schlummert, dieser große Junge, der erst gestern noch, in meine beiden, zusammengefalteten Hände passte, macht mich stolz. Er ist nicht mein eigenes Kind, nicht mein Sohn und trotzdem scheine ich alles richtig zu machen. Dieses Vertrauen, dass der Kleine in mich hat. Ich darf es mir nicht kaputt machen. Alles werde ich dafür geben, dass ich immer eine Stütze an seiner Seite sein kann. Der Onkel, zu dem er gehen kann, wenn er mal Stress mit seinen Eltern hat, oder dem er freudig um den Hals fällt, wenn es Weihnachten ist und die ganze Familie zusammenkommt.

Weihnachten!

Diese stille Nacht, heilige Nacht.

Zeit mit der Familie und den Liebsten.

Wie wird es dieses Jahr sein? In etwa drei Monaten wird es wieder soweit sein. Wird Papa wieder keinen Baum aufstellen, weil es sich einfach nicht richtig anfühlt? So wie damals bei Mama?

Oder wird er es für Leo tun, der dieses Jahr etwas mehr von diesem heiligen Fest mitbekommt und dem wir all die Traditionen mit auf den Weg geben wollen? Einen bunt geschmückten Weihnachtsbaum mit eingeschlossen...

Der Nachrichtenton für eine neue WhatsApp, schreckt mich aus meinen Gedanken und ich werfe einen Blick auf mein Handy.

„Alles gut bei euch? Wie geht es Leo? Schläft er?"

Typisch Sina! Oder vielmehr typisch eine Mama!

„Uns geht's super. Der Kleine ist längst im Reich der Träume. Ich lasse die Bäckerei morgen zu, dann müsst ihr euch nicht gleich in aller Früh wieder aus dem Bett quälen. Hoffentlich habt ihr einen guten Platz ergattert. Viel Spaß!"

„Danke, Matthias", antwortet sie. „Du hast echt was gut bei Mike und mir. Wir stehen übrigens fast ganz vorne, zwar nur seitlich der Bühne, aber wir haben echt einen guten Blick. Schlaf du auch gut später. 🤗"

Gähnend tapse ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Wirklich Lust, etwas anzuschauen habe ich zwar nicht, aber viel los ist heute Abend auch nicht mehr. Ein typischer Sonntagabend auf dem Sofa, mit der Ausnahme, dass ich morgen früh nicht in der Backstube stehen werde. Ein fast idealer Zeitpunkt, um mal wieder einen Filmmarathon zu starten. 

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