26/Hinter die Fassade blicken

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Ende September 2008

Matthias

„Willst du nicht rauskommen, Matze-Glatze... Hey, ich rede mit dir, du Schwuchtel." Seit gefühlten Stunden, harre ich schon in dieser schmutzigen und stinkigen Toilettenkabine aus. Wie bescheuert beginnt Ben gegen das Kunststoff zu hauen, das mich von ihm trennt und andersrum auch. „Ich will doch nur mit dir reden. Versprochen. Du kannst mir vertrauen."

Von wegen!

Das letzte Mal, als Ben nur reden wollte und ich zu dumm, vielleicht aber auch naiv war, darauf reinzufallen, hat er mich nur weiter vor den anderen bloßgestellt. Es gab kaum ein Schimpfwort, das er mir noch nicht an den Kopf geworfen hat. Arschloch, Depp, Idiot, Blödmann, Memme, ja neuerdings nennt er mich immer Schwuchtel. Ben hatte eigentlich schon seit er vor einem Jahr zu ins in die Klasse gekommen ist, immer etwas an mir auszusetzen. Erst war es mein braunes Haar, das ich etwas länger trug, so dass ich den Ansatz eines Pferdeschwanzes, binden konnte. Dann waren es meine neuen Schuhe, die Mama mir schenkte, weil sie mir einfach eine Freude bereiten wollte. Dann waren es meine Augen, die anscheinend so hässlich seien, dass mich niemand freiwillig anschauen möchte...

Einmal, es war noch ziemlich am Anfang dieser Demütigungen und Beleidigungen, da habe ich den Mut gefunden und mich gegen Ben gewehrt, was ziemlich mysteriös endete. Ich kann noch heute nicht wirklich fassen, was damals passiert ist und ob es tatsächlich wahr ist. Noch heute kann ich Bens heißen Atem überall auf meinem Gesicht und in der Nähe meines Halses, spüren. Für mich fühlte es sich einfach nur eklig an, als er kurz darauf, seine Lippen auf meine legte und seine Zunge in meinen Mund schob, ehe seine Hände unter mein T-Shirt wanderten...

Das alles, es geschah nur ein paar Tage bevor ich im Unterricht zusammenbrach, weil klar wurde, dass Mama den Krebs nicht überleben wird. Seit diesem Tag, wurde es mit den Beleidigungen schlimmer. Ben mobbte mich täglich, nannte mich eine Heulsuse, ein Mamakind, machte sich über ihre schwere Krankheit lustig und zog die meisten aus meiner Klasse, mit in seine Spielchen rein. Die Mädchen machten sofort mit, da sie ihm seit dem ersten Tag verfallen waren, die Jungs sahen in ihm den „Großen", und „Coolen", der alles aufmischte und mit dem sie unbedingt befreundet sein mussten. Koste es was es wolle!

Jetzt warte ich nur darauf, dass er endlich aufgibt und sich verzieht. Mein Magen knurrt und hofft vergebens auf etwas Essbares, das ich ihm schon seit Tagen nicht mehr wirklich gebe. Kurz darauf wird mir fürchterlich übel und ich schnelle vom Toilettensitz hoch, um in die Knie zu gehen. Es kommt nicht viel, eher nur Wasser und schlagartig beginnt sich alles um mich herum, zu drehen.

Mit zittrigen Händen, öffne ich die Kabinentür und taumele Ben entgegen, der schon etwas sagen will, sein geöffneter Mund bewegt sich, aber ich kann das Gesprochene nicht mehr hören, weil es mir urplötzlich schwarz vor Augen wird.

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Flüsternde Worte, ein sanftes Rütteln und immer wieder mein gewisperter Name. Das ist es, was ich meine zu hören, als ich langsam wieder zu mir komme. Dann ist es fast schon beängstigend still und ich spüre nur noch das Rasen eines Herzens, irgendwo im Bereich meines Rückens. Mir wird speiübel und der Geruch in der Luft, macht es nicht besser. Verschiedene Ausdünstungen anderer Jungs und dazu dieser permanente Gestank nach Urin...

„Ich hab dich, Matze", haucht Ben mir ins Ohr. Die Sänfte und Besorgnis in seiner Stimme, verwirren mich, aber der Nebel in meinem Gehirn, lässt mich sowieso keinen klaren Gedanken fassen. Wahrscheinlich träume ich das Ganze gerade oder es ist dem Fieber zu schulden, das ich mit Sicherheit habe. Erst wird mir kalt, dann plötzlich heiß und das im ständigen Wechsel.

Am liebsten würde ich aufstehen, nur weg von Ben, aber alleine der kurze Versuch, schwächt mich und mir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Auf Herr Geiger, der wie von der Hummel gestochen, ins Jungenklo gestürmt kommt und hinter ihm eine ganze Horde Schüler, die aufgeregt miteinander tuscheln. Dann auf den Sanitäter, der mir dieses eklige Brötchen in die Hand drückt, das ich nur esse, damit ich ganz bald hier weg komme. Und schließlich Papa, der mich endlich aus meiner Misere befreit. Weg, nur weg von Ben und den anderen, die aufgeregt miteinander quatschen und ihre Finger in meine Richtung, strecken.

Das hier, es ist der Tiefpunkt. Ein wahrgewordener Albtraum, viel schlimmer, als alles was davor war. In Bens Armen zu liegen, hilflos und wie ein Stück Elend, es gibt mir den Rest. Alles wächst mir über den Kopf und obwohl ich so viel fühle, spüre ich eigentlich gar nichts mehr.

Trotzdem vertraue ich mich Papa an, beichte ihm alles, aber es macht mich nicht annähernd so frei, wie ich erhofft hatte, mich danach zu fühlen. Viel mehr ist es, als hätte ich damit mein Todesurteil unterschrieben. So schnell wird die Schule Ben mit Sicherheit nicht verweisen. Sein Vater ist ziemlich reich, wo er sehr oft mit angibt und ich ahne, dass es alles ganz anders kommen wird. Mit Geld kann man sich alles kaufen, zumindest predigt Mama mir das fast jeden Tag. Nur Glück und Gesundheit nicht, dass ist es, was sie dann immer zum Schluss sagt. Vielleicht sieht es eine Weile so aus, aber richtig viel Kohle, macht mich nicht glücklich. Vielleicht scheint es bei vielen so, aber du musst hinter die Fassade blicken, Matze. Lass dich nicht von etwas täuschen, das von außen glänzt, aber innerlich verdorben ist.

Eigentlich will ich nicht schlafen, weil jede verstrichene Minute, mich dem Morgen und damit dem neuen Schultag,  ein kleines Stückchen näher bringt, aber mein Körper ist viel zu schwach, um wachzubleiben. Heute ist die Nacht meine Feindin, wo sie doch eigentlich sonst meine beste Freundin ist...

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