Elena
Am liebsten würde ich mich auf Matthias stürzen und noch hier draußen, die Klamotten von seinem Körper reißen. Derart ungeduldig habe ich mich noch nie erlebt, dazu kommt noch ein unerträgliches Ziehen zwischen meinen Beinen, was die Situation nicht einfacher macht.
Mit leicht zittrigen Fingern umgreife ich den Schiebegriff von Freds Kinderwagen und trete mit dem Fuß auf die Bremse. Dann krame ich in meiner Jackentasche nach dem Hausschlüssel, bedacht nicht nervös oder hibbelig zu wirken. Matthias soll nicht denken, dass er mich längst um den Finger gewickelt hat. Ich will noch ein bisschen sauer auf ihn sein und die beleidigte Leberwurst spielen, weil er sich fast eine Woche nicht bei mir gemeldet hat. Das Herz in meiner Brust trommelt wie verrückt, als ich endlich aufschließe, Freds Kinderwagen im Hausflur parke und den Kleinen sachte daraus hervorhebe. Im Nacken spüre ich Matthias' Blicke und sein schweres Atmen.
„Magst du mit hochkommen?", frage ich mit zuckersüßer Stimme und beginne ein weiteres Spiel. „Ich könnte dir noch einen Kaffee anbieten, gerne auch einen Tee, wenn dir das lieber ist."
„Elena, ich...", beginnt er, dann fährt er sich durch die hellbraune Haarmähne und gibt einen tiefen Seufzer von sich. Mehr sagt er nicht und auch wenn es mir vorkommt, als würde er noch etwas sagen wollen, belasse ich es dabei, ihn danach zu fragen. Er folgt mir, als ich die Treppe nach oben gehe. Auf der ersten Plattform bleibe ich stehen und deute mit der freien Hand auf die mittlere, von drei Wohnungstüren.
„Hier wohne ich... Komm doch rein."
„Elena, ich... Ich muss dir was sagen", wispert er, tritt hinter mir in meine Wohnung und schließt dann die Tür hinter sich. „Es ist irgendwie absurd... So wie alles zwischen uns, aber ich muss einfach wissen, ob es stimmt und..."
Mein Herz schlägt mir mittlerweile bis zum Hals. Bestimmt hat er rausgefunden, dass Armin...
Oh Gott!
„Es ist nicht so wie du denkst. Ich wollte ja, aber...", beginne ich, werde aber sofort wieder von ihm unterbrochen.
„Dein Bruder, Ben..." Seine Stimme ist zittrig und ich kann sehen, wie sehr Matthias mit sich kämpft. „Ich weiß nicht, ob du Bescheid weißt, dass er mich...Ich kann das einfach nicht..." Er stoppt wieder und sinkt auf den Boden. Überfordert stehe ich neben ihm, Fred noch immer auf meinem Arm und versuche zu verstehen, was genau Matthias sagen möchte.
„Was ist mit Ben? Woher kennst du meinen Bruder?"
„Er ist also tatsächlich,... er hat...", murmelt er, das Gesicht unter den Händen begraben.
„Ich bin gleich wieder bei dir...Ich muss eben Fred in sein Bettchen legen."
„Dein Sohn ist übrigens zuckersüß, Elena."
„D..Danke", stottere ich. „Ich bin gleich wieder bei dir."
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Matthias, er muss der Grund sein, weswegen Ben sich hat dermaßen volllaufen lassen. Woher sonst sollte er meinen Bruder kennen? Oh Gott, das hier...Es scheint immer verrückter zu werden.
„Hattest du was mit Ben?", platzt die Frage aus mir raus, als ich Matthias in meinem Wohnzimmer vorfinde. Er hat es sich auf der Couch gemütlich gemacht und scheint wieder etwas gefasster, als noch vor ein paar Minuten.
„Nein", bringt er aufgebracht hervor, senkt die Lautstärke seiner Stimmer aber sofort. „Weißt du was dein Bruder mir angetan hat, als wir noch Kinder waren? Ich muss das wissen, Elena. Bitte."
„Ich verstehe gar nichts mehr." Überfordert lasse ich mich neben ihn auf die Couch fallen. Seine Hitze strahlt auf mich über und trotz allem, kann ich die Anziehungskraft nicht verbergen, die mich in seine Arme drängt.
„Es tut mir leid", murmelt er. „Ich bin keine Petze, Elena...Aber ich will einfach verstehen, warum jemand, der dich anscheinend wie verrückt liebt, dir gleichzeitig das größte Leid zufügen kann. Ben, er...Damn it, Elena, er hat mich aufs Übelste gemobbt, sich über meine krebskranke Mutter lustig gemacht und das auch noch nach ihrem Tod...Und dann, dann steht er neulich vor mir und sagt mir, dass er das nur getan hat, weil er mich liebt... Das passt doch vorne und hinten nicht, oder?"
„Oh Gott", presse ich hervor. „Ben, er...Weißt du, mein Bruder hat in der Jugend ziemlich Mist gebaut und ich wusste, dass er nie darüber hinweg gekommen ist, dass unser Vater einfach abgehauen ist und uns zurückgelassen hat, als wären wir nur altes Gepäck, das ihm schwer auf den Schultern lastet...Aber von dem Mobbing, da wusste ich nichts."
„Er hat mich auf der Straße angesprochen und gesagt, dass ich mich von dir fernhalten soll..."
„Aber das willst du nicht?"
„Ich weiß nicht, was ich will, Elena. Meine Mutter ist gestorben, da war ich dreizehn. Frida war an meiner Seite und wir haben uns über die Jahre hinweg, jeden Tag ein kleines bisschen mehr, ineinander verliebt...Und dann kommt irgendein besoffener Penner und nimmt mir mein Mädchen weg. Jetzt, ohne sie... Ich will einfach etwas anderes spüren, als nur den tiefsitzenden Schmerz in mir, Elena. Und ich hatte die Hoffnung, dass ich das an deiner Seite tun kann, aber dann kam Ben. Auch, wenn ich ihm nie verziehen habe und es wohl auch nie tun werde, hat er mir ins Gewissen geredet." Seine Augen verwandeln sich in einen eiskalten See, in dem ich zu ertrinken drohe. „Wir müssen uns voneinander fernhalten. Es ist noch so frisch und wir sollten Abschied von unseren Liebsten nehmen und uns nicht in irgendwas verrennen, das nie eine Zukunft haben kann..."
„Du hattest anderes vor", unterbreche ich ihn hektisch und spüre die aufkeimenden Tränen in meinen Augen. Die Tatsache, dass er Armin als besoffenen Penner betitelt hat, verdränge ich gekonnt, genauso wie die Schuldgefühle tief in mir. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, auch mit dieser Wahrheit auf den Tisch zu hauen, aber ich weiß, dass ich dazu keinen Mumm habe. „Ich weiß, dass du nicht nur an der Haustür gewartet hast, um mir das zu sagen, Matthias. Die Sehnsucht in deinen Augen, ich konnte sie genau sehen...Bitte bleib doch noch ein bisschen."
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Spuren deiner Liebe
RomanceMatthias ist sehr glücklich mit seinem Leben. Er hat den Bäckermeister in der Tasche und sich zusammen mit Frida, der Liebe seines Lebens den Traum einer eigenen Bäckerei erfüllt. Die perfekte Idylle. Doch das Schicksal schlägt gnadenlos zu und von...