12/Mit dem Wind tanzen

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Matthias 

Jetzt

„Du musst den Kopf über Wasser halten, Matthias... Lass dich ja nicht entmutigen. Gabriel und ich, wir können nicht nachvollziehen, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen auf solch eine grausige Art und Weise zu verlieren. Und dann auch noch die Liebe des Lebens...Ihr wolltet doch im Winter heiraten, oder nicht? Matthias? Hörst du mir überhaupt zu?"

Leicht genervt blicke ich in die blassgrauen Augen von Karin, Sinas Schwiegermutter. Tief in mir brodelt die Wut, aber ich darf sie nicht an die Oberfläche lassen. Nicht vor den Augen meiner gesamten Familie und dazu auch noch die von Mike. Alles irgendwelche Schwestern, Brüder, Nichten, Neffen und Cousins, keine Ahnung, ich habe längst den Überblick verloren.

Sina bemüht sich. Will vor Mikes Eltern gut dastehen. Und natürlich tut sie es auch für Leo, der heute seinen ersten Geburtstag feiert. Mein Patensohn, der Grund, warum ich mich heute Morgen aus dem Bett gequält habe, obwohl ich nach meinem gestrigen Zusammenbruch eigentlich am liebsten dort geblieben wäre.

Im Augenwinkel nehme ich wahr, dass Basti mich mustert, genauso wie Papa. Wahrscheinlich rechnen sie damit, dass ich wieder auf die Knie gehe. Meine derzeitige Verfassung, sowie körperlich, aber auch seelisch, ist eine einzige Katastrophe. Ich habe einfach keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Frida ist weg und so sehr ich es mir wünsche, sie wird nie wieder an meiner Seite sein können. Es schlaucht mich enorm, dass ich derart sensibel und zerbrechlich bin. Eine Anmerkung zu Fridas Apfelkuchen alleine reicht schon, um mich aus der Fassung zu bringen.

Das halte ich nicht länger aus, irgendwann muss es doch besser werden...

„Ich will nicht über Frida sprechen und schon gar nicht über die geplante... Hochzeit." Karin wartet noch immer mehr oder weniger ungeduldig auf meine Antwort. Ich dagegen will mich der Situation schleunigst entziehen. Schon wieder schwimmen verräterische Tränen in meinen Augen. Mein Herz bebt wie eine Trommel in meinem Herzen, aber es ist kein schönes Gefühl. Schweiß perlt sich auf meiner Stirn, während ich versuche die Haltung zu bewahren. „Und wenn ich es mir recht überlege, dann möchte ich mich heute gar nicht mit dir unterhalten, Karin. Ich denke, dass ich mal nach Leo schaue. Entschuldigst du mich?"

Es ist ein unangenehmes Geräusch, das entsteht, als ich den Stuhl, auf dem ich sitze, nach hinten schiebe. Hektisch rappele ich mich von diesem auf und gehe die lange Tafel entlang, ehe ich hinter meiner Schwester zum Stehen komme. Mein Atem pfeift unnatürlich laut in meinen Ohren und alles, was ich von der Umgebung wahrnehme, wirkt etwas verzerrt.

„Ich brauche frische Luft", sage ich, als ich mich zu ihr beuge, damit sie mich trotz des sehr lautstarken Geräuschpegels im gesamten Restaurant, verstehen kann. Gut, dass wir in einem extra Nebenzimmer untergebracht sind und somit nicht direkt auf dem Präsentierteller sitzen.

„Soll ich mitkommen?", fragt sie besorgt, woraufhin ich bestätigend nicke.

„Können wir Leo mitnehmen?" Der Kleine sitzt seelenruhig in seinem Hochstuhl und betrachtet ein Stoffbuch mit den Zahlen von 1-10, welches jedoch mehr in seinem Mund landet und durch seine schnellen Bewegungen liegt es keine Sekunde später auf dem Boden. „Quasi als Alibi. Ich will nicht, dass alle denken, dass ich wieder einen Kollaps habe oder irgendwie wieder am Durchdrehen bin." Ich versuche mich an einem Lächeln, aber es will mir nicht richtig gelingen.

„Na klar", erwidert Sina sofort. „Ich wollte ihn sowieso wickeln und danach wäre es auch Zeit für ein kleines Nickerchen im Kinderwagen."

„Nehmt ihr mich auch mit?", fragt Basti. Ich hatte ihn gar nicht kommen sehen und zucke erschrocken zusammen, als sein warmer Atem meinen Hals streift.

„Ausnahmsweise", nuschele ich mehr zu mir. „Hauptsache raus."

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Mit tiefen Zügen nehme ich die frische Abendluft in mir auf. Für Ende September ist es zwar tagsüber noch ziemlich angenehm, fast schon zu warm, aber abends wird es dann richtig kühl. Meine rechte Hand liegt auf dem Haltegriff von Leos Kinderwagen und gleichmäßig schiebe ich diesen vor und zurück, damit der Kleine nicht wieder aufwacht. Es war nur eine kurze Runde nötig, ehe er einschlief. Mein Blick schweift über bunt gefärbten Bäume und auf die Haufen toter Blätter, die sich rund um sie versammeln. Einige von ihnen wirbeln in unsere Richtung und wenn es komplett still wäre, könnte ich dem einzigartigem Geräusch lauschen, das entsteht, wenn sie mit dem Wind tanzen.

"Bist du schwanger?", platzt es unvermittelt aus Basti heraus und er deutet auf Sinas Bauch.

"Nein, ich bin einfach nur fett, du Idiot!", schnauzt sie zurück.

„Ich kapier gerade gar nichts", murmele ich.

„Musst du auch nicht", meint mein Bruder grinsend und zuckt mit den Schultern. „Es ist ein und ich muss ehrlich zugeben, dämlicher Insider zwischen Sina und mir. Nein, eigentlich eher Mike und mir, aber Sis hat davon Wind bekommen und naja... Jetzt ziehe ich sie manchmal damit auf."

„Das ist fies."

„Endlich einer, der auf meiner Seite steht." Sina schlingt einen Arm um mich und drückt sich gegen meine Seite. „Mike hat sich vor ein paar Monaten liebevoll über meinen Babybauch, naja, das was davon übrig geblieben ist, ausgelassen und du kennst ja Basti und meinen Mann. Zwei Kindsköpfe durch und durch. Aber was soll ich machen? Ich liebe sie beide wie verrückt und kann ihnen echt nicht böse sein... Genauso wenig wie dir, Matze. Wie geht es dir eigentlich? Ich bin echt glücklich, dass du heute hier bist, um Leos Geburtstag zu feiern, auch wenn ich weiß, wie anstrengend es mit der ganzen Meute da drinnen sein kann..."

„Können wir heute jedes Thema sein lassen, das irgendwie mit Frida zu tun hat?", unterbreche ich sie. „Es geht doch um Leo. Und einzig um ihn. Bitte!"

„Okay", knickt sie sofort ein und sofort rutscht die Stimmung wieder gefühlt in Richtung Gefrierpunkt. Nach Mamas Tod, waren Sina und ich eine Einheit. Ich habe mich an sie geklammert und sie hat dasselbe bei mir getan. Wir haben uns aufgefangen und in den Armen des jeweiligen anderen, Trost gesucht. Ich weiß, dass meine Schwester auch jetzt an meiner Seite sein möchte, aber ich bin kein kleiner Junge mehr. Dieser Schmerz, die endlose Wut und Fassungslosigkeit über Fridas plötzlichen Tod, es fühlt sich anders an. Die Wunde ist eine andere. Ich kann nicht denselben Weg gehen, wie damals.

„Ich würde noch gerne etwas alleine sein", höre ich mich sagen, bereue diese Worte aber gleich. Trotzdem kann ich mich nicht gegen diese Leere stellen, die sich in mir aufbaut. Mein Körper drängt nach einem Gefühl der Ruhe und Ausgeglichenheit. Ich dagegen sehne mich nach etwas ganz anderem. Einem klitzekleinem und ehrlichen Lächeln nämlich und der Gesellschaft meiner Familie.

Aber die Dämonen scheinen einfach stärker zu sein, als ich.


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