7/Schlimmster Albtraum

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Matthias

 Ende September 2008

„Matthias... Junge, kannst du mich verstehen?"

Dumpf dringt Stimmengewirr zu mir durch. Desorientiert schlage ich die Augen auf. Ich bin unverkennbar auf der Jungentoilette in der Schule. Mein Blick fällt auf die Unterseite der Waschbecken. Etwas schräg muss ich daliegen, erhöht und auf etwas weichem, das zu atmen scheint. Der Brustkorb der anderen Person hebt und senkt sich in unregelmäßig schnellem Tempo.

„Er wurde ganz plötzlich kreidebleich und ist in sich zusammengesunken." Das ist unverkennbar Bens Stimme.

Ich liege doch nicht etwa...?

Ich will mich etwas aufrichten, bereue das aber sofort wieder, weil mich ein erneuter Schwindelanfall überkommt, woraufhin ich die Augen wieder schließe.

„Gott sei Dank", höre ich die Stimme von Herr Geiger. „Matthias, du bist wach. Am besten bleibt ihr beide so sitzen, beziehungsweise liegen, bis der Notarzt da ist. Hast du mich verstanden, Ben?"

„Ja, Herr Geiger."

Ich liege doch tatsächlich in den Armen meines größten Peinigers. Und wie es aussieht, hatte ich einen Schwächeanfall. Ob ich auch kurz ohnmächtig war? Mit Sicherheit, sonst wäre Herr Geiger nicht so außer sich. Und auch Ben scheint ziemlich Angst zu haben, was ich an dem Zittern merke, das ihn kurz durchfährt.

„Ist alles gut, Junge?" Herr Geiger kniet vor mir und hält die Hand an meine Stirn, ehe er von einem anderen Schüler, eine Flasche Wasser gereicht bekommt. Ich will mich gerade etwas aufrichten, um einen Schluck daraus zu nehmen, als ein paar Schuhe auf mich zukommen, die zu dem Sanitäter gehören, der sich jetzt zu mir hinunterbeugt.

„Ist dir schlecht?", fragt er als erstes, was ich mit einem kurzen Nicken quittiere.

„Hast du heute schon etwas gegessen oder getrunken?"

Ich schüttele vorsichtig mit dem Kopf.

„Können Sie dem Jungen etwas zu Essen besorgen? Ein Brötchen mit Käse oder Wurst ist schon ausreichend", meint der Sanitäter jetzt zu Herr Geiger.

„Ich kümmere mich darum. Muss Matthias jetzt ins Krankenhaus?"

„Es reicht vollkommen, wenn er etwas isst und sich ausruht, bis er abgeholt werden kann. Haben Sie schon die Eltern informiert?"

„Der Vater ist bereits auf dem Weg."

„Gut, dann ist mein Job hier getan. Sollte sich sein Zustand nicht bessern oder sogar verschlechtern, dann scheuen Sie nicht noch einmal den Notruf zu wählen. Aber ich denke nicht, dass das nötig sein wird."

Mir wird ein Brötchen gereicht, in das ich nur widerwillig beiße. Jeder Blick liegt auf mir und es ist mir so unangenehm. Das Schlimmste ist wohl, dass ich in Bens Armen liege. Das ist mein schlimmster Albtraum, der gerade wahr geworden ist. Er war der Zeuge meiner Hilflosigkeit, mein Retter in der Not und mit Sicherheit wird er das schon morgen gegen mich verwenden und mich so noch mehr in der Hand haben.

Nachdem ich das Brötchen zur Hälfte gegessen habe, stürmt Papa ins Jungenklo. Aschfahl im Gesicht blickt er zu mir hinab, dann zu Herr Geiger und schließlich zu Ben.

„Was ist hier geschehen?"

Herr Geiger erklärt ihm die Situation, dann wird mir endlich auf die Beine geholfen. Ich fühle mich schlapp, müde und im Allgemeinen nur elendig. Hoffentlich komme ich hier so schnell wie möglich raus, ohne noch weiter die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Das Getuschel ist jetzt schon unerträglich...

...................................

Tatsächlich sitze ich keine fünfzehn Minuten später in Papas Auto. Die ganze Fahrt nach Hause sagt er kein einziges Wort. Zuhause hilft er mir gleich ins Bett und bleibt dann noch auf meinem Bettrand sitzen. Ich höre seinen unregelmäßigen Atem und als er mich anblickt, stehen Tränen auf seinen Wangen.

„Was ist passiert, Matthias? Du weißt nicht, welche Ängste und Sorgen ich ausgestanden habe, nachdem dein Lehrer mich angerufen hat. Erst die Sache mit Frida und der verpassten Stunden und jetzt das? Bitte sag mir die Wahrheit. Du musst noch nicht in die Schule, wenn du noch nicht bereit bist... Das habe ich dir doch angeboten."

„Es liegt nicht daran", nuschele ich. „Ich habe gestern gelogen, als ich gesagt habe, dass ich mich übergeben musste und deshalb den Unterricht verpasst habe... Ich wollte nicht, dass du dir noch mehr Sorgen machen musst, als du es momentan ohnehin schon tust. Ich habe die letzten Tage nicht wirklich viel gegessen, weil ich einfach keinen Hunger hatte... Und dann... Ist da noch... Ben. Er... Er macht sich über mich lustig und über Mamas Tod... Er hat mich schon gemobbt, als er erfuhr, dass sie Krebs und dadurch eine Glatze hat.. Jetzt ist es noch schlimmer. Ich verschanze mich im Klo, damit er mich nicht ärgern kann. Aber er lauert mir immer dort auf und dann geht alles wieder von vorne los...Und vorhin, da ist mir einfach schwarz vor den Augen geworden..."

Tränen rinnen mir über die Wangen. Es ist eine enorme Last, die mir soeben von den Schultern abfällt, aber gleichzeitig habe ich riesige Angst. Jetzt habe ich einen Erwachsenen eingeweiht. Wenn Ben das erfährt...

„Du hättest mir gleich die Wahrheit sagen sollen", meint Papa. „Du bist dreizehn Jahre alt und hast erst deine Mama verloren. Es muss eine fürchterliche Qual für dich gewesen sein, auch noch dieses Mobbing zu ertragen. Ich sorge dafür, dass du nicht mehr in eine Schule mit diesem Jungen gehen musst. Das verspreche ich dir, mein Schatz."

„Aber ich will auf keine andere Schule...Dann werde ich Frida nicht mehr sehen können. Und sie gibt mir gerade so viel Kraft und Mut. Das darf ich nicht verlieren. Bitte Papa."

„Dann muss eben Ben die Schule wechseln", murmelt Papa. „Wenn die Lehrer von seinem grausigen Mobbing gegen dich erfahren, wird er das auch sicher müssen."

Es fühlt sich gut an, aber gleichzeitig auch irgendwie falsch.

Aber im Moment will ich einfach nur noch schlafen...


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