28/Unartige Gedanken

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Elena

„Was ist passiert?", versuche ich aus meinem Bruder hervorzubringen. Ben ist stockbesoffen und liegt vor sich hin summend auf dem Sofa, ein Arm liegt über der Lehne, der andere baumelt seitlich hinab. „Bitte, Ben. Rede mit mir. Wir alle machen uns schreckliche Sorgen."

Till und Nadia sitzen auf der zweiten Zweiercouch, die in Bens Wohnzimmer steht. Meine beste Freundin hat vorsorglich einen Eimer an seine Seite gestellt, aber bisher scheint es ihm noch bestens zu gehen. Viel zu aufgedreht vom Alkohol, aber so bekomme ich vielleicht noch was aus ihm raus. 

Heißt es nicht, dass Kinder und Betrunkene immer die Wahrheit sagen?

„Isch habe es ihm gesa...agt, dassch isch ihn liebe", lallt er. „Mein Herz habe isch ihm zu Füsschen gelee..gt. Aber er... Er hat esch wie damals getr..eten und..." Keuchend beugt er sich zur Seite, als der Alkohol sich entscheidet, nicht länger in seinem Magen bleiben zu wollen.

„Wer will zuerst?", fragt Nadia mit wenig Begeisterung in der Stimme. Ich kann sie gut verstehen, scheinbar hatte sie ein Date mit meinem Bruder und jetzt muss sie seinem Zwilling die Spucke vom Gesicht wischen. Nicht gerade das, was sie sich unter einem romantischem Abend zu zweit, vorgestellt hat.

„Ich", melde ich mich freiwillig und gehe seufzend auf meinen Bruder zu.

Nachdem ich es geschafft habe, Ben in sein Bett zu verfrachten, gehe ich wieder ins Wohnzimmer. Nadia füttert gerade Fred und Till sieht ihr dabei zu. Es ist schön, zu sehen, wie verliebt die beiden sind. Diese kurzen, neugierigen, ja intensiven Blicke, ich liebe es, wie sie sich diese immer wieder zuwerfen. Das Knistern zwischen den beiden liegt deutlich in der Luft und es ist total bescheuert, dass wir jetzt hier sein müssen und nicht dort, wo wir eigentlich sein wollten. Wir alle helfen Ben wirklich gerne, aber es war schon früher so, dass er uns sehr oft unsere Pläne zerstört hat, weil er es mit dem Saufen maßlos übertrieben hat. Eigentlich dachte ich, dass er endlich damit aufgehört hat, aber irgendwas muss ihn total aus der Bahn geworfen haben...

„Weißt du wovon Ben gesprochen hat?", frage ich Till.

„Nein", antwortet er sofort. „Er hat mir nichts davon erzählt, dass er verliebt ist. Ich meine, da gab es, soweit ich weiß, vor vier Monaten mal diesen Typen, aber es war so schnell vorbei, wie es angefangen hat. Mehr eine Affäre, als eine Beziehung. Ich glaube nicht, dass Ben sich wegen dem die Birne volllaufen lässt. Vor allem, weil es ja eigentlich mehr als vertagt ist."

„Komisch", kommentiere ich. „Könnt ihr dableiben, bis er wieder einigermaßen fit ist? Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber Fred, er sollte dringend ins Bett. Und mir würde ein wenig Schlaf auch gut tun..."

„Ich wünschte auch, dass ich ein Baby hätte", unterbricht Nadia mich. „Es ist schon geschickt, wenn man es ständig als Vorwand benutzen kann, um abzuhauen." Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, als sie Fred betrachtet, dem nach dem Füttern, langsam die Augen zufallen.

„Es tut mir so leid um euer Date. Vielleicht solltet ihr euch das nächste Mal ein Hotelzimmer nehmen, da kommt euch mit Sicherheit nichts und niemand dazwischen."

„Du weißt, dass ich nur Spaß mache, Süße. Und, ich sag nur...Sex on the Beach und davon jede Menge. Erinnerst du dich?"

Oh ja!

„Klar, wie könnte ich das vergessen, auch blöder Vorschlag... Hey, wenn du willst, dann leihe ich dir Fred gerne mal aus. Manchmal ist es nämlich gar nicht so nice und easy, aber ich würde trotzdem keine Sekunde ohne den kleinen Mann, missen wollen."

„Ich glaube, ich bin etwas überfordert", klinkt Till sich in das Gespräch, ein. „Eine Freundin zu haben, deren beste Freundin meine Schwester ist...Manchmal komme ich echt nicht mit, aber wahrscheinlich ist es auch besser so."

„Es ist besser so", bestätigt Nadia sofort. „Nicht falsch verstehen, Schatz."

„Keine Sorge." Lachend zieht er sie in seine Arme und gibt ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen, den sie eigentlich gerne vertiefen würde, aber sie entzieht sich ihm schnell wieder. Gedankenversunken wuschelt Till sich durch das Haar und sein Blick geht ins Leere.

Ich weiß, dass die beiden sich dringend etwas Zweisamkeit wünschen.

„Ich bin dann weg", sage ich daher und lege Fred in die Schale des Kinderwagens. „Meldet euch, falls ihr nochmal Hilfe mit Ben braucht, ansonsten wünsche ich euch eine gute Nacht... Macht nichts, was ich nicht auch machen würde."

„Du bist so bescheuert", lacht Nadia, drückt mir dann einen Bussi auf die Wange. „Aber deswegen liebe ich dich ja auch so sehr."

„Ich hab dich auch lieb, Mausi...Tschüss, Bruderherz."

„Bye, Sissi." Till winkt etwas unbeholfen und ich merke, wie durcheinander er ist. Es muss doch ziemlich anstrengend sein, dass die Schwester die beste Freundin der Auserwählten, ist...

Es ist längst stockfinster, als ich mich auf den Nachhauseweg mache. Zwar wurde die Uhr noch nicht umgestellt, aber Anfang Oktober merkt man doch langsam, wie sich alles wieder verändert. Die Tage werden kürzer und die Nächte länger.

Gut, dass ich nicht durch den Park muss, der ist mir nachts doch zu unheimlich, weil sich da doch einiges tummelt, vor allem Jugendliche, die meinen, sie wären es. Als Frau bist du heutzutage sowieso nicht mehr sicher, vor allem in der Nacht. Mir wäre es auch lieber, wenn ich ein Auto hätte, aber das alte ist seit dem Unfall Schrott und ein Neues kann ich mir einfach nicht leisten. Vor Freds Geburt, war ich beim örtlichen Elektriker, als Büroaushilfe angestellt. Aber die haben mich noch ziemlich am Anfang der Schwangerschaft gekündigt und mir hat einfach die Kraft gefehlt, mich darüber aufzuregen und noch viel weniger, etwas gegen dieses Unrecht zu tun. So bin ich jetzt quasi Bürgergeldempfängerin und obwohl ich dem Staat, oder viel mehr den Steuerzahlern, nicht auf der Tasche liegen will, bin ich froh, dass ich überhaupt Geld bekomme.

Ich bin froh, als ich endlich vor dem Mehrfamilienhaus stehe, in dem ich wohne. Es ist ein kleiner Schotterweg, der zur Eingangstür führt und langsam schiebe ich den Kinderwagen darüber. Die ersten Spaziergänge, hatte ich schreckliche Angst, dass ich Fred verletzen könnte, weil es den ganzen Kinderwagen, ihn inklusive, dabei ziemlich durchrüttelte.

Ich stoppe abrupt, als ich im schwachen Licht der Eingangsleuchte, eine Gestalt stehen sehe. Lässig lehnt sie sich gegen das milchige Glas der Eingangstür, nur schemenhaft kann ich das Gesicht erkennen.

„Hallo Elena", tönt seine tiefe und raue Stimme, die mir schon jetzt die Gänsehaut auf die Arme treibt, dabei hat er mich noch nicht einmal berührt oder irgendwas anderes mit mir angestellt. Aber alleine seine Stimme, der Klang davon, schafft es, dass ich ziemlich unartige Gedanken bekomme und mir Dinge vorstelle, die nicht gerade jugendfrei sind. „Kann ich kurz mit dir reden?"

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