5 (6) - Den tod vor Augen

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Sam betrat vorsichtig die Bibliothek und sah Lili niedergeschlagen an einem der Tische sitzen. Sie hatte den Kopf auf die Arme gestützt und starrte gedankenverloren auf die Tischplatte. Sam räusperte sich leise, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Ihr Kopf schnellte nach oben und sie sah ihn entgeistert an. Sam konnte deutlich sehen, dass sie geweint hatte, aber er sagte nichts.

„Darf ich ...?" Er deutete auf den Stuhl ihr gegenüber.

Sie zog einen Mundwinkel schräg nach oben und nickte kaum merklich.

„Ich nehme an, Ria möchte hier bleiben ...", sagte sie halb fragend.

„Sie hat nichts gesagt, aber ich denke schon."

„Gut. Was soll ich dem Rat diesmal für sie vorlügen?"

„Lili, bitte. Tu das nicht ..."

„Was? Es ist doch genau so. Immer, wenn es um euch beide geht, stehe ich am Ende da und erzähle dem Rat irgendwelche Lügen, um sie zu schützen." Dann sah auch Lili zu Boden und fügte traurig hinzu: „Und ich tue es immer wieder, weil ich sie liebe."

In diesem Moment sah Sam sie an und konnte sich so gut in sie hineinversetzen. Er wusste, wie es war, für jemanden, den man liebte, die falschen Dinge zu tun. „Und sie ist dir unendlich dankbar dafür."

Aber Lili sah ihn wütend an: „Dafür sollte man nicht dankbar sein!"

***



„Ich praktiziere keine schwarze Magie!", versuchte Aria sich zu verteidigen.

„Aber du machst dir ihre Kräfte zu Nutze", korrigierte Dean sie.

Aria schnaufte und blickte zu Boden. „Ich hatte Angst."

Dean runzelte die Stirn und sah sie fragend an.

„Ich hatte Angst zu sterben, weil es gefährlich sein kann, mit dir zusammen zu sein." Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte sarkastisch. "Ich schätze, Karma ist eine ziemlich fiese Bitch, denn am Ende hat mich genau das umgebracht."

„Den Tod auszutricksen geht meistens nicht gut aus."

Jetzt war Aria an der Reihe, ihn mit einem absoluten Bitchface anzusehen. „Dein scheiß Ernst? Dean Winchester will mir erzählen, dass es keine gute Idee ist, den Tod auszutricksen?! Wie oft bist du gleich nochmal gestorben? Sieben Mal? Oder waren es mehr? Du hast dich sogar umgebracht, um mit dem Tod zu verhandeln! Mehr als einmal! Ihr habt den Tod getötet! Und auch seine Nachfolgerin!"

„Schon gut, okay", lenkte Dean ein. „Vielleicht hast du ja recht. Ich bin wahrscheinlich nicht das beste Vorbild in dieser Sache." Doch plötzlich wurde er nachdenklich und begann, in das Glas vor sich zu starren.

„Was?", fragte Aria. „Woran denkst du?"

Er verzog das Gesicht, nahm einen großen Schluck und seufzte. „Wenn du soviel Angst davor hast zu sterben, wenn du in meiner Nähe bist, dann solltest du vielleicht -"

„Wage es nicht, diesen Satz zu beenden, Dean!", unterbrach Aria ihn.

Doch er schüttelte den Kopf. „Komm schon, Ari. Verstehst du denn nicht? Lili hat vielleicht recht mit dem, was sie gesagt hat."

„Womit?"

„Jedes Mal, wenn du in Schwierigkeiten gerätst, habe ich etwas damit zu tun."

„Das glaubst du doch nicht wirklich?"

Er sah sie verzweifelt an. „Vielleicht solltest du darüber nachdenken, ob ich der Richtige an deiner Seite bin. Ich meine, bevor wir uns kennengelernt haben, hattest du noch nicht einmal Berührungspunkte mit der dunklen Seite. Du hast Rowena durch uns kennengelernt. Du wusstest durch mich von dem Versicherungszauber. Du warst hier bei uns im Bunker, um uns zu helfen, als du sie darum gebeten hast. Das ist nicht der Weg, den du gehen solltest."

„Ach ja? Und was sollte mein Weg sein? Blumen, Sonnenschein und nackt um einen großen mystischen Stein tanzen, bis man in völliger Trance umkippt?"

Dean kniff die Lippen zusammen und zog die Augenbrauen hoch, als er sich vorstellte, wie Aria nackt und in Trance vor ihm tanzte.

„Halt die Klappe, Winchester!", lachte sie. „Hör zu, Dean. Ich entscheide, welchen Weg ich gehe. Und ich habe mich dazu entschieden ihn – zumindest hin und wieder – mit dir zu gehen. Und es sieht so aus, als würde mich nicht einmal der Tod davon abhalten."

„Und wenn es genau das ist, was dich noch tiefer in die Dunkelheit zieht?"

„Wird es nicht."

„Weißt du, warum der Chaneque dich verfolgt hat? Zuerst dachten wir, es sei wegen der Allianz. Aber er wusste nichts davon."

Arias Lippen wurden schmal. „Ja, das weiß ich. Er wusste nicht einmal das von uns beiden. Er sagte, ich hätte Mutter Natur betrogen. Und ja, aus seiner Sicht war das wohl so. Der Tod gehört schließlich zur Natur. Und ich habe Gaia mein Versprechen gemacht. Aber mit Rowenas Zauber kann man schon sagen, dass ich sie betrogen habe."

Sie nahm noch einen Schluck Bourbon. „Und doch ... ist das kein Grund, mich von dir abzuwenden. Und wage es nicht, dir die Schuld dafür zu geben. Ich sehe es dir an. Versuch nicht, es zu leugnen. Ich habe mich dafür entschieden. Und ich habe mich auch für dich entschieden. Das würde ich immer wieder tun."

„Und wo hat dich das hingeführt? Zwei deiner Schülerinnen sind tot, wegen dieser Entscheidung."

„Als ob ich das nicht wüsste. Und ja, es ist tragisch. Und ja, ich werde den Rest meines Lebens daran denken, dass ich dafür verantwortlich bin. Und genau das ist der Punkt! Ich bin dafür verantwortlich, nicht du."

„Aber du hast die Entscheidung wegen mir getroffen und das kann ich nicht -"

„Verflucht noch mal, Dean! Hör auf damit! Hast du mich verstanden? MEINE Entscheidung! MEINE Bürde!"


Plötzlich ertönte eine tiefe, aber sanfte Stimme vom anderen Ende des Raumes. „Entschuldigung?"

Beide blickten zum Türbogen und erblickten eine hochgewachsene, dunkelhaarige Gestalt in einem beigefarbenen Trenchcoat mit einer blauen, verkehrt herum gebundenen Krawatte um den Hals.

„Cas?", fragte Dean. „Was machst du denn hier?"

„Sam hat mir eine verwirrende Nachricht geschickt, ob ich vorbeikommen und nach Aria sehen könnte." Dann sah er zu ihr. „Du bist wohl schwer verletzt worden ..."

Sie lächelte sarkastisch. „So könnte man es auch ausdrücken."

Dean nahm sein Glas und lehnte sich an die Wand, während Cas sich neben Aria auf einen Hocker setzte.

„Soll ich es mir mal ansehen?", fragte er zögernd.

„Ich ... äh ..." Aria war sich nicht sicher und blickte kurz zu Dean. Doch der nickte nur stumm und so stimmte Aria zögernd mit einem leisen „Okay" zu. Sie drehte sich ganz zu Cas um und hob ihren Kopf ein wenig an, sodass die große, immer weiter verblassende Wunde deutlich zu sehen war.

„Was ist passiert?", fragte Cas verwirrt.

„Ein Schutzgeist ist Amok gelaufen und hat ihr die Kehle durchgeschnitten", sagte Dean so beiläufig, als würde er jemandem vom letzten Einkauf erzählen.

„Oh, verstehe." Auch Cas' Stimme war ruhig. Aria blickte zwischen den beiden Männern hin und her, während sie sich schweigend in die Augen starrten.

Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt